Im Januar vergangenen Jahres stellte die EU-Kommission der Öffentlichkeit mit dem sogenannten „Dienstleistungspaket“ mehrere Gesetzgebungsvorhaben vor, mit Hilfe derer aus ihrer Sicht der Binnenmarkt in Europa weiter nach vorne gebracht werden sollte (siehe dazu Artikel „Angriff auf die berufliche Selbstverwaltung“ in DIB 04/2017). Neben allgemeinen Empfehlungen für Reformen bei bestimmten regulierten Berufen beinhaltete das Paket drei Vorschläge: die Einführung einer elektronischen Dienstleistungskarte, ein einheitliches Analyseraster für eine verpflichtende Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Einführung oder Änderung bestehender Berufsregulierungen und die Idee einer Reform des sogenannten Notifizierungsverfahrens.
Mit der Dienstleistungskarte sollte es Anbietern künftig möglich sein, ihre Leistungen unbürokratisch und flexibel europaweit anbieten zu können und sich dabei nicht mit den administrativen Formalitäten im Zielland auseinandersetzen zu müssen. Mittels des Analyserasters wollte die Kommission ein einheitliches und konsequentes Vorgehen im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Einführung neuer oder vor Änderung bestehender Berufsregulierungen verbindlich festlegen. Durch die Reform des Notifizierungsverfahrens sollten die Mitgliedstaaten dagegen künftig verpflichtet werden, der Kommission sämtliche Änderungen zu nationalen Rechtsvorschriften für Dienstleistungen zu melden. Damit wollten Brüssel und die anderen Mitgliedstaaten etwaige Bedenken aufgrund möglicher Unvereinbarkeit mit dem EU-Recht bereits in einem frühen Stadium geltend machen können.
Die Vorschläge schienen auf den ersten Blick durchaus positiv zu sein. Bei genauerer Betrachtung entpuppte sich aber zum Beispiel der Vorschlag zur Dienstleistungskarte als handwerklich schlecht gemachter Versuch, das sogenannte Herkunftslandprinzip aus dem Onlinehandel in das Dienstleistungssegment zu übertragen – ungeachtet aller im Dienstleistungsbereich erforderlichen qualitätssichernden Mechanismen und gleichfalls ungeachtet der Tatsache, dass mit dem „Einheitlichen Ansprechpartner“ und dem „Europäischen Berufsausweis“ bereits ähnliche Instrumente existierten. Diese wurden im Übrigen auch schon nicht vom Markt angenommen und beflügelten diesen auch nicht. Alle weiteren Vorschläge hätten in der Praxis für noch längere Verfahren und überbordende Bürokratie gesorgt oder – im Fall des Notifizierungsverfahrens – sogar gegen den bewährten und von den Erschaffern der EU gewollten Aufbau verstoßen, indem sich die Kommission Rechte anmaßen wollte, die nur dem Europäischen Gerichtshof zustehen. Daher haben die Bun esingenieurkammer sowie weitere relevante Freiberuflerorganisationen massiv gegen das Dienstleistungspaket Stellung bezogen und in der Folgezeit in zahlreichen Gesprächen mit der Politik interveniert.
Stand im Sommer 2018
Gut 18 Monate nach der Vorstellung des Dienstleistungspakets konnten in den Verfahren im Europäischen Rat und im Europäischen Parlament erfreulicherweise viele problematische Einzelpunkte aus den Vorschlägen der Kommission herausdiskutiert werden. Die Verhandlungsergebnisse zur Reform des Notifizierungsverfahrens und zur Verhältnismäßigkeitsprüfung befinden sich aktuell in der Phase des sogenannten „informellen Trilogs“. Das heißt, die drei beteiligten Institutionen der EU – Kommission, Rat und Parlament – eruieren, ob und inwieweit es eine gemeinsame Linie gibt, die das Gesetzgebungsverfahren erheblich abkürzen würde. Das Verfahren zur Dienstleistungskarte wurde dagegen sogar faktisch gestoppt.
Notifizierungsverfahren
Der Vorschlag zur Reform des Notifizierungsverfahrens befindet sich aktuell im Trilogverfahren von Rat, Parlament und Kommission. Nachdem bereits in den Februar- und März-Sitzungen die wichtigsten kontroversen Punkte identifiziert wurden, stagniert das Verfahren jedoch seither. Dies scheint insbesondere dem Umstand geschuldet zu sein, dass der Europäische Rat zunächst die Ausarbeitung eines Rechtsgutachtens seines wissenschaftlichen Diensts zur Frage des Beschlussrechts der EUKommission abwarten wollte. Dieses bereits im ursprünglichen Vorschlag der Kommission beinhaltete (finale) Beschlussrecht der Kommission war von Beginn an einer der wesentlichen Diskussionspunkte des Vorschlags, da er im Prinzip eine Umkehr des verfassungsmäßigen Aufbaus der EU bedeuten würde. Auch aus diesem Grund hatte sich die BIngK vehement dagegen ausgesprochen.
Dieses Gutachten liegt nun vor, vermag jedoch aus juristischer Sicht nicht zu überzeugen. Es billigt der Kommission im Prinzip die (umstrittene) Kompetenz zu, endgültig „nei “ zu einem Gesetzesvorhaben eines Mitgliedstaats zu sagen, schränkt diese aber zugleich dadurch ein, dass „im Zweifel“ doch der Europäische Gerichtshof (EuGH) das letzte Wort haben müsse. Wenn also bei unterschiedlicher Auffassung von EU-Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat (sofern dieser der EU-Kommission nicht Folge leistet), die einzige Folge eines Beschlusses doch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens ist, stellt sich grundsätzlich die Frage nach dem Mehrwert eines solchen Beschlusses. Dann könnte man es gleich bei der (jetzigen) Befugnis der EU-Kommission belassen, ausschließlich Empfehlungen an die Mitgliedstaaten zu richten. Diese Ansicht teilt auch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) und wird dies auch bei den folgenden Trilogverhandlungen so vertreten.
Verhältnismäßigkeitsprüfung
Nach der im März innerhalb des informellen Trilogs erfolgten politischen Einigung zwischen Europäischem Parlament und dem Rat der Europäischen Union zum Vorschlag über die Einführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung wurden zwischenzeitlich weitere wichtige Hürden genommen. So haben am 20. April 2018 die EU-Botschafter des Rats (AStV) und anschließend die Mitglieder des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) des EU-Parlaments dem Kompromisstext zugestimmt. Sollte dieser Text während einer der nächsten Plenarsitzungen verabschiedet werden, was als Formalie gilt, wird am Ende der Rat seine Zustimmung erteilen.
Die wichtigsten Kernaussagen des Kompromisstextes:
Betonung der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Systeme der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Dies umfasst auch das etwaige Delegieren an Berufsorganisationen wie z. B. Kammern.
- Grundsätzliches Anerkennen, dass die Einführung zusätzlicher Anforderungen der Verwirklichung übergeordneter Gemeinwohlziele dienlich sein kann. Beispielhaft werden in diesem Zusammenhang die Pflicht zur kontinuierlichen beruflichen Weiterbildung, die Pflichtmitgliedschaft in einer Berufsorganisation, etwaige Fremdkapitalbeschränkungen sowie Gebühren- und Honorarordnungen genannt.
- Hervorheben der Zuständigkeit und des Ermessens der Mitgliedstaaten, ob und wie ein Beruf zu reglementieren ist, solange die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.
- Die Begründungspflicht für die Einführung bzw. Änderung bestehender Rechts- und Verwaltungsvorschriften wurde klarer und damit praktikabler gefasst.
- Die Mitwirkung unabhängiger Kontrollstellen ist nicht mehr vorgesehen.
- Innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung an sich hat man sich im Wesentlichen auf den Ansatz des Rats geeinigt. Demnach wird es zukünftig zweierlei Gruppen von Prüfkriterien geben – solche, die grundsätzlich immer, und solche, die nur bei Relevanz zu berück ichtigen sind.
Das Prüfkriterium hinsichtlich der wirtschaftlichen Auswirkungen wurde ebenso gestrichen wie das einer zu prüfenden kumulativen Auswirkung der Maßnahme.
Europäische Elektronische Dienstleistungskarte
Der verantwortliche Ausschuss im Europa-Parlament (EP), der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO), hat bereits Ende März die Vorschläge der EU-Kommission zur umstrittenen Dienstleistungskarte mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Damit wurde das Vorhaben durch das EP faktisch gestoppt. Rein formal wurden die Vorschläge der Kommission allerdings nicht zurückgewiesen, was bedeutet, dass sich der Ausschuss theoretisch noch einmal mit den Vorschlägen befassen könnte. Dies wird allerdings aller Voraussicht nach nicht passieren. Viel wahrscheinlicher dürfte es sein, dass die Kommission ihre Vorschläge zur Einführung einer Dienstleistungskarte nun von sich aus zurückziehen wird. Entsprechendes hatte der zuständige Kommissionsbeamte in Gesprächen mit der BIngK für den Fall der Ablehnung im IMCO bereits in Aussicht gestellt. Hinzu kommt, dass sich nun auch der Europa-Rat in seiner ebenfalls skeptischen Haltung zu ebendiesen Vorschlägen bestätigt sehen dürfte Dort hatte es im Vorfeld in der Sache seit einigen Monaten keine substanziellen Fortschritte mehr gegeben.
Ein Erfolg der politischen Arbeit
Alles in allem lässt sich als Fazit ziehen, dass die Vorschläge mit vereinten Kräften auf ein erträgliches Maß zurechtgestutzt oder sogar ganz verhindert werden konnten. Insgesamt ein guter Erfolg der politischen Arbeit in Brüssel (und auch Berlin) im Verbund mit den übrigen Freiberuflerorganisationen sowie dem Handwerk. Letztlich muss man sich aber darüber im Klaren sein, dass die Kommission mit weiteren Vorhaben an ihrem Ziel eines deregulierten Binnenmarkts um jeden Preis festhalten wird. Dementsprechend werden die nächsten Vorschläge nicht lange auf sich warten lassen. Die Bundesingenieurkammer wird sich auch künftig mit den Ideen der Kommission ergebnisoffen auseinandersetzen und da, wo es nötig ist, den politischen Diskurs suchen.