Beständig ist bekanntlich nur der Wandel. Dieser Binsenweisheit verschließen sich viele Ingenieurbüros und ihre Inhaber nicht, vielmehr werden wesentliche Entscheidungen sorgfältig getroffen. Längst haben sich Unternehmer von der Ansicht gelöst, alles besser zu wissen. Sie wissen um die Bedeutung ihrer Maßnahmen und bereiten diese entsprechend vor. Ein „Entscheidungsprotokoll“ kann dabei helfen, strukturiert vorzugehen. Auch wenn es für eine optimale Entscheidung keine absolute Sicherheit gibt, lässt sich die Entscheidungsqualität deutlich verbessern, wie der Nobelpreisträger für Wirtschaft, Daniel Kahneman, anführt.
Ein Büroinhaber entscheidet selten im stillen Kämmerlein, oft wird eine Gruppe von Verantwortlichen ausgewählt, häufig ein Projektteam gebildet. Techniker und Kaufleute, Frauen und Männer, erfahrene und neue Mitarbeitende kommen zusammen, sammeln und nutzen sorgfältig die notwendigen Informationen. Um schließlich die – hoffentlich richtige – Lösung zu finden. Der Büroinhaber bringt sich ein, lässt aber bestenfalls die Meinung anderer Teammitglieder nicht nur zu, sondern fordert diese explizit ein. Denn: Unterschiedliche Meinungen sind wichtig. Ohne Differenzen, Reibungen, ja, Konflikte wird sich selten die beste Entscheidung finden lassen. Mit den gebündelten Erfahrungen und dem umfangreichen Wissen sollten doch die richtigen Schritte gefunden werden. Oder?
Entscheidungsvorbereitung –Testballon für eine Idee
Auf den ersten Blick werden wichtige Entscheidungen meist strukturiert vorbereitet und getroffen. Diese sind bspw. in Protokollen einer Geschäftsführungssitzung dokumentiert, Aufsichtsgremien und/oder Besitzer stimmen formell zu, das Ergebnis wird schriftlich festgehalten. In der Praxis erfolgt meist eine informelle Vorbereitung. Ein Einzelner hat eine Idee, lässt, bildlich gesprochen, in vertraulichen Gesprächen einen „Testballon“ steigen, gewinnt ein erstes Meinungsbild, kann andere überzeugen oder stellt Ablehnung fest. Verbündete und Unterstützer werden gewonnen, negativ Eingestellte isoliert. Gibt es formelle Abstimmungen, werden die einzelnen Stimmen durchgespielt, ihr Abstimmungsverhalten antizipert. Keiner möchte mit seiner Idee eine formelle Niederlage erleiden und wird diese zurückstellen, wenn sie sich als nicht mehrheitsfähig erweist. Damit sind die sprichwörtlichen Weichen längst gestellt, bevor es zur formellen Entscheidung kommt, leider jedoch nicht immer in die richtige Richtung …
Vorurteilslos an Vorschläge herangehen
Niemand tritt völlig neutral an eine Entscheidung heran, noch wird diese gänzlich unvoreingenommen vorbereitet. Mancher ist vorsichtig, eine andere wagemutig, ein Dritter möchte das Ingenieurbüro erhalten, wieder andere lieber expandieren. Vielleicht ist bekannt, welcher Berufskollege eine vergleichbare Entscheidung getroffen hat, und welche Konsequenzen eine mehr oder weniger gelungene Umsetzung hatte. Möglicherweise bringt man aus einem vorherigen Anstellungsverhältnis ähnliche Erfahrungswerte mit.
Dennoch sollte der Versuch unternommen werden, ohne Vorurteile an eine Entscheidungsfindung heranzutreten, bereits in der frühen Findungsphase ergebnisoffen eine Lösung anzustreben.
Grundsätzlich sollte man annehmen können, dass jeder, der einen Vorschlag macht, an dessen Sinnhaftigkeit und Durchsetzbarkeit glaubt. Sollte er dennoch abgelehnt werden, muss das nicht gleich negativ aufgefasst werden. Im Gegenteil: Viele neue Ideen sind gut, ja, notwendig, auch wenn eine Ablehnung nach gründlicher Erwägung häufiger ist als eine Umsetzung. Um eine Analogie aus dem Fußballspiel aufzugreifen: Spiele werden im Sturm gewonnen, Meisterschaften in der Verteidigung.
Diese Aussage gilt explizit auch für einen Büroleiter und/oder Inhaber. Insbesondere, wenn nur eine Person die Verantwortung trägt, gilt es, in besonderem Maß die Ansichten Dritter einzufordern und dann zu berücksichtigen.
Die Objektivierung von Bewertungsdimensionen
Dass Bewertungen so objektiv wie möglich sein sollen, ist eine triviale Feststellung. Wenn auch völlige Objektivität nicht möglich ist, gibt es dennoch Möglichkeiten der Verbesserung, wobei die Zielrichtung nicht ist, sehr gute anstelle von guten Entscheidungen zu treffen, als vielmehr, falsche Entscheidungen zu vermeiden.
Hierzu wird eine Checkliste mit allen wichtigen Informationen zusammengestellt, woraus sich einzelne Dimensionen ableiten lassen, wie Technik, Kosten/Erlöse und Kunden. Aufstellungen, die bei einer Unternehmensübernahme eingesetzt werden, eignen sich hier als Grundlage. Daraufhin werden die einzelnen Dimensionen an verschiedene Verantwortliche übergeben, wobei ein Einzelner auch mehrere Dimensionen übernehmen kann, falls keine Alternativen bestehen. Dies ist in kleinen Ingenieurbüros nicht immer möglich, aber oft gibt es Externe, die eingebunden werden können. Der Steuerberater bei den Finanzdaten, der kürzlich in den Ruhestand getretene Ingenieur bei der Technik, ein Vertriebsagent beim Absatz.
Die Einnahme einer Außenperspektive objektiviert die Informationssammlung. Zwar ist dies für Büromitglieder nur beschränkt möglich, allerdings gibt es Hilfestellungen. Wo immer möglich, sollte eine Basisrate, eine Referenzklasse gefunden werden. Wenn beispielweise eine neue Technologie zum Einsatz kommen soll, werden sich Berufskollegen finden, die diese bereits einsetzen. Wenn eine Anlage länger als üblich betrieben werden soll, wird es ebenso Unternehmen geben, die die „alten Schätzchen“ noch nutzen. Ein neues, vergleichbares Produkt wird schon von einem anderen Unternehmen angeboten. Es reicht nicht aus, von „guten“ oder „geringen“ Erfolgen bei vergleichbaren Anbietern zu sprechen, als vielmehr festzustellen, dass vier von fünf die Absatzziele erreichen oder überschritten, aber nur drei von acht mit einer bestimmten Investition zufrieden waren.
Wichtig ist, dass kein Teammitglied andere beeinflusst, weshalb selbst informelle Gespräche über die eigene Einschätzung unterlassen werden sollten; nicht als falsch verstandene „Geheimniskrämerei“, sondern als Mittel zur besseren Entscheidungsqualität. Die Zusammenführung einzelner, isolierter Entscheidungen führt zu besseren Entscheidungen als die gemeinsame Entscheidungsfindung. Ein einfaches Beispiel ist das „Münzenglas“: Soll die Anzahl von Münzen in einem Glas geschätzt werden, ist das Ergebnis des Einzelnen meist schlecht, werden eine Vielzahl von einzelnen, isolierten Schätzungen zusammengeführt, ergibt sich ein signifikant besseres Ergebnis. Ein ähnliches Bild zeigt das Fernsehquiz „Wer wird Millionär“ auf, wo der „Publikumsjoker“, die anonymisierte Mehrheitsmeinung des Publikums im Studio meist eindeutig und fast immer richtig ist.
Entscheidungssitzung als Informationsaustausch
Mit der aufgezeigten Vorbereitung wird die Entscheidungssitzung ihrem Namen gerecht. Keine bereits informell abgestimmte Lösung wird nur noch formal vollzogen, sondern es wird tatsächlich eine Entscheidung getroffen.
Unterschiedliche Bewertungen der einzelnen Dimensionen sollen und werden zu Diskussionen führen. Dabei stellt der Informationsaustausch, nicht der Meinungskonsens das Ziel dar. Nachdem eine einzelne Dimension diskutiert wurde, gibt jeder Teilnehmer seine Einschätzung ab. Dies erfolgt verdeckt, wozu spezielle Apps benutzt werden, aber auch einfach Zettel ausgefüllt werden können, die ein Beteiligter einsammelt und ablegt. Die Anonymität wird ernstgenommen, nicht zum Nachbar herübergeblinzelt oder das Lächeln bzw. Stirnrunzeln des Büroleiters als Stimmungsbild antizipiert. Bei der Bewertung reicht eine einfache Quantifizierung mit Werten von 0 bis 10 aus.
Auf diesem Weg werden die einzelnen Dimensionen abgearbeitet. Die Ergebnisse werden übersichtlich auf einer Tafel festgehalten. Bei der Zusammenführung werden die einzelnen Dimensionen nicht gewichtet, sondern gleichwertig angesetzt. Was nicht wichtig ist, ist keine Zieldimension; was eine Zieldimension ist, ist wichtig. Damit wird ebenfalls sichergestellt, dass kein Fachbereich bzw. Fachbereichsvertreter die anderen überstrahlt und der Eindruck entsteht, dass der eigene Beitrag allenfalls als Beiwerk dient. Selbstverständlich können einzelne Punkte aufgedeckt werden, die ein K.o.-Kriterium darstellen und eine positive Entscheidung schlicht unmöglich erscheinen lassen, worauf deutlich hingewiesen wird.
Nach Abschluss der Diskussion erfolgt eine erneute, wiederum anonymisierte Bewertung. Schlussendlich geht es darum, ein Projekt durchzuführen oder abzulehnen. Die Mitglieder des Entscheidungsteams geben ihre Meinung ab. Fundiert, auf Basis der Bewertungen der Einzelpunkte.
Dabei kann, darf – ja, soll! – durchaus das Bauchgefühl zum Einsatz kommen, wobei die Reihenfolge zu beachten ist. Nicht am Anfang der Entscheidungsfindung macht die „Schere im Kopf“ ein Projekt unmöglich, nicht der Hinweis eines erfolgreichen Berufskollegen führt zur überstürzten Umsetzung, sondern die Erfahrung der Teammitglieder fließt nach der intensiven Würdigung der Fakten in die Entscheidung ein.
Gerd Gigerenzer definiert das Bauchgefühl als ein Urteil,
- das rasch im Bewusstsein auftaucht,
- dessen tiefere Gründe nicht vollständig bewusst sind,
- das stark genug ist, dass Menschen danach handeln.
Weiterhin können die Ergebnisse während der Umsetzung genutzt werden, zeigen kontroverse Diskussionen doch darauf hin, wo besonders engmaschig die Umsetzung begleitet und kontrolliert werden sollte.
Ein knappes „Nein“ kann dazu führen, dass besonders kritische Variablen weiter beobachtet werden und bei einer signifikanten Veränderung das Projekt erneut zur Entscheidung vorgelegt wird. Ein knappes „Ja“ erfordert möglicherweise ein erneutes Abwägen der Entscheidung in drei oder sechs Monaten.
Zu unterlassen ist allerdings ein nachträgliches Verfolgen der Einschätzungen der einzelnen Teilnehmer sowie spätere Hinweise, bei was der Einzelne richtig oder bei was er falsch gelegen hat. Sicherlich lässt sich leicht feststellen, wer für oder gegen ein Projekt gestimmt hat; welche Entscheidung jedoch die richtige war, ist sehr viel schwieriger festzustellen.
Die Folgen einer Nichtentscheidung
Bei wesentlichen Entscheidungen und Unschlüssigkeit kann es durchaus geboten sein, auch „Nicht – Entscheidungen“ zu thematisieren. Die Folgen eines „Weiter so!“ sind für einzelne Betroffene durchaus unterschiedlich – nicht wenige Menschen können mit einer begrenzten Perspektive leben, während andere sich bewusst fragen, wo das Ingenieurbüro in fünf oder zehn Jahren steht.
Erwarten dann einzelne Mitglieder des Entscheidungsteams gravierende, ja, verheerende Auswirkungen, sollte die Passivität nochmals überdacht werden. Um eine Brücke zur Evolution zu schlagen: Arten bleiben nicht erhalten, weil sie alles richtig machen, sondern weil sie den einen, entscheidenden Fehler unterlassen, der zum Aussterben führt.