Die Kultur hinkt der Struktur oft hinterher

Wenn viele Teile zusammenwirken müssen

Deutsches Ingenieurblatt 03/2019
Management

Viele Unternehmen sind beim Verankern einer Lean-Kultur in ihrer Organisation auf einem guten Weg. Doch um das angestrebte Ziel zu erreichen, müssen sie, wie eine Studie  zeigt, oft noch zahlreiche Hürden überwinden. So hinkt zum Beispiel die Entwicklung ihrer (Führungs-)Kultur oft der Entwicklung ihrer Struktur hinterher.

Die Grundidee von Lean ist schnell erklärt: Als Organisationsoptimierung werden  der Zweck der zu verrichtenden Arbeit, die Gestaltung der Arbeitsplätze selbst sowie das Zusammenwirken in Prozessen und Strukturen zu einem ganzheitlichen System zusammengefasst. „Lean“ steht für „verschlanken“, beinhaltet aber eine klare Philosophie, festgelegte, Gestaltungsregeln definierende Prinzipien und die Methoden,um diese umzusetzen. Klare Abgrenzungen sind kaum möglich, da eine eindeutige Unterteilung bei der Entstehung  von Lean nicht vorgesehen war. Es ist aus vielen einzelnenpragmatischen Hilfsmitteln entstanden.

Unternehmen, die sich aktiv mit dem Thema Lean-Management befassen, stellen oft nach einiger Zeit fest: Unsere Maßnahmen,  beispielsweise zur Einführung von Lean-Methodenund -Tools zum Schaffen effizienter Prozesse, bringen zwar kurzfristige, jedoch keine nachhaltigen Erfolge. Vielmehr verschlechtern sich die Prozesse nach einiger Zeit wieder, mit der Folge, dass erneut hohe Qualitätsschwankungen auftreten und die Verschwendung steigt.

Die zentrale Ursache hierfür ist: In den Unternehmen besteht oft noch nicht die erforderliche (Führungs-)Kultur, um die Abläufe und Prozesse sowie Problemlösungen mit den Mitarbeitern kontinuierlich und nachhaltig zu verbessern. Mit einer Studie wird deshalb seit 2014 im Zwei-Jahres-Rhythmus der Lean Reifegrad von Unternehmen abgefragt. In  ihr wird geprüft, inwieweit sich in den Unternehmen, die Lean-Management in ihrerOrganisation einführten, eine Lean-Kultur  bereits verankert hat und wie hoch deshalbihr Lean-Reifegrad ist.

Reifegrad in Unternehmen Der Reifegrad der Lean-Kultur wird in der Studie bezogen auf die drei Dimensionen 

  • „Vision, Strategie, Ziele, Kundenfokus“,
  • „Prozesse und kontinuierliche Verbesserung“ sowie 
  • „Leadership und Shopfloor-Management“ ermittelt. Bezogen auf jede dieser drei Handlungsebenen sollen die Unternehmen anhand von 15 Fragen jeweils mittels einer 5er- Skala eine Selbsteinschätzung vornehmen, inwieweit in ihrer Organisation ausgehend vom angestrebten Idealzustand zum Beispiel noch „kleine“, „größere“ oder „(erfolgs-)kritische Lücken“ bestehen.

An der Lean-Reifegrad-Studie 2018 nahmen  118 Lean-Verantwortliche von Unternehmen teil. Die an der Befragung teilnehmenden Unternehmen hatten im Schnitt eine fünf- bis sechsjährige Erfahrung mit Lean- Aktivitäten. 70 Prozent von ihnen zählten zurproduzierenden technischen Industrie und  sechs Prozent waren (Finanz-)Dienstleister. Die restlichen 24 Prozent waren unter anderemim Handel, im Baugewerbe und in der  chemischen und pharmazeutischen Industrie zuhause.

Die Studie 2018 ergab: Die relative Mehrheit der Unternehmen (38 %), die sich aktiv  mit dem Thema Lean-Management befassen, hat bei der Lean-Kultur die Stufe 3 auf derdieser Befragung zugrundeliegenden 5er-  Skala erreicht (siehe Kasten).

Sie befinden sich also auf einem guten Weg, müssen aber beim Aufbau und Verankern  einer KVP- und Lean-Kultur in ihrer Organisation noch einige Hindernisse überwinden. Fast 30 Prozent sind in diesem Prozess schon weiter fortgeschritten und haben eine der beiden höchsten Entwicklungsstufen 4 (15 %) oder Stufe 5 (14 %) erreicht. Fast ein Drittel der Unternehmen steht in diesem Prozess jedoch noch am Anfang und ist auf der Stufe 1 (17 %) oder Stufe 2 (15 %) anzusiedeln.

Große branchenspezifische Unterschiede 
Dabei zeigen sich jedoch branchenspezifische Unterschiede. So ist zum Beispiel in den zur pharmazeutischen und chemischen Industrie sowie der Autoindustrie zählenden Unternehmen der Aufbau einer Lean-Kultur meist schon weit fortgeschritten, während er bei den (Finanz-) Dienstleistern und im Handel noch in den Kinderschuhen steckt.

Deutlich zeigt sich zudem eine Abhängigkeit des Reifegrads von der Lean-Erfahrung. So erreichen Unternehmen mit fünf und mehr  Jahren praktischer Erfahrung hinsichtlich ihres Lean-Reifegrads die höchste Punktzahl. Dabei fällt jedoch auf: Die Unternehmen mit zehn und mehr Jahren Lean-Erfahrung  schneiden in der Regel schlechter als die Unternehmen mit fünf bis neun Jahren Erfahrung  ab. Ursachen hierfür dürften sein:

  • Die Beschäftigung mit Lean ist in ihnen zu einem Formalismus erstarrt und 
  • die Arbeit mit den Lean-Tools und -Methoden wird von den Mitarbeitern eher als auferlegte Pflicht, denn als Arbeitserleichterunggesehen.

Das heißt letztlich: Die Lean-Kultur hat sich trotz eines langjährigen Engagements  nicht in der DNA der Mitarbeiter und der Organisationverankert. Dessen ungeachtet zeigt ein Vergleich der  Studienergebnisse 2018 mit denen in den Jahren 2014 und 2016: Der Lean-Reifegrad der Unternehmen, die sich mit dem Thema Lean aktiv befassen, hat sich erhöht. Sobefanden sich zum Beispiel 2014 nur fünf Prozent der Unternehmen auf der Reifegrad- Stufe 5, also der höchsten Stufe, 2018 schon 14 Prozent. Und während sich 2014 noch 40 Prozent von ihnen auf den niedrigsten Reifegrad-  Stufen 1 und 2 befanden, sind es 2018 nur noch 32 Prozent.

Problem: bereichsübergreifende Abstimmung
Dabei zeigt die Detailanalyse jedoch: In der Dimension „Vision, Strategie, Ziele und Kundenfokus“  gibt es bei keiner Teilfrage signifikant bessere Werte als in den Jahren 2014 und 2016. So spiegelt sich zum Beispiel in vielen Unternehmen die Vision noch nicht in einer langfristig orientierten und bereichsübergreifend in sich konsistenten Strategie wider.Vielmehr ist der Betriebsalltag noch von einem  kurzfristigen Denken und Ad-hoc-Entscheidungen geprägt. Zudem bleibt ein zentrales  Problem zahlreicher Unternehmen das   Übersetzen der Strategie in Unternehmensund Bereichsziele und deren Kaskadierung und Kommunikation auf die unteren Ebenen. Große Probleme bereitet ihnen zudem die bereichsübergreifende Abstimmung.

Diese gewann in den vergangenen Jahren jedoch zunehmend an Bedeutung, da heute  die meisten Kernleistungen von Unternehmen in bereichs- und nicht selten sogar unternehmensübergreifender Team- und Projektarbeit erbracht werden. Entsprechend schwer wiegen in der modernen Unternehmenswelt, die von einer zunehmenden Vernetzung geprägt ist, Defizite in diesem Bereich, wenn es um ein erfolgreiches Umsetzen von Strategien und damit verknüpften Change-Vorhaben geht.

Problem: Führungskräfte haben falsches Rollenverständnis 
Ähnlich verhält es sich bei der Dimension „Leadership und Shopfloor-Management“. Hier zeigen sich zwar im Vergleich zu 2014 und 2016 inTeilbereichen moderate Verbesserungen, nahezu  durchgängig besteht in den Unternehmen jedoch zum Beispiel eine große (Kompetenz-) Lücke beim Wahrnehmen der Coaching-Funktiondurch die Führungskräfte. In vielen Unternehmen  wird die Aufgabe, die Mitarbeiter im Rahmen ihrer Tätigkeit zu fördern und zu unterstützen, von den Führungskräften noch kaum wahrgenommen – sei es aufgrund eines ungenügenden Methoden-Know-hows oder eines falschen Führungsverständnisses.

Dies liegt auch daran, dass beim Besetzen vakanter Führungspositionen die  Lean-Leadership-Kompetenz der Kandidaten meist eine untergeordnete bis gar keine Rolle spielt. Dadurch fehlen insbesondere auf der operativen Ebene oft die erforderlichen Promotoren und Treiber der gewünschten Veränderungen. Das behindert letztlich aufgrund der vielen, wegen  er vernetzten Struktur und Prozesse bestehenden  Interdependenzen den Auf- und Ausbau einer Lean-Kultur in der gesamten Organisation.

Auch die Denkweise der Mitarbeiter muss sich ändern
Anders sieht es bei der Dimension „Prozesse und deren kontinuierliche Verbesserung“ aus. Hier verbesserten sich die erzielten  Durchschnittswerte der Unternehmen in allen Teilbereichen von 2014 bis 2018 kontinuierlich. Der erhöhte Lean-Reifegrad der Unternehmen ist also vor allem auf eine konstante Verbesserung beim Gestalten und Managen der wertschöpfenden Prozesse zurückzuführen; auf der Ebene der (bereichsübergreifenden) Strategieumsetzung sowie auf der Kompetenz-Ebene und der Ebene der Denkweise der Mitarbeiter,insbesondere der Führungskräfte, hingegen  besteht oft noch ein großer Handlungsbedarf. Hier ruhen, so ein zentrales Ergebnis der Lean-Reifegrad-Studie 2018, noch viele ungenutzte Potenziale und Chancen, wenn es um den Auf- und Ausbau einer Lean-Kultur in Unternehmen geht.

Personal- und Organisationsentwicklung  verzahnen
So interessant die Ergebnisse der Studie sind, erstaunlich sind sie nicht, denn bei größeren Change-Projekten, die außer  Änderungen auf der Struktur- und Prozessebene auch kulturelle Veränderungen erfordern, stellt man oft fest: Den Unternehmen fällt es schwer, dafür zu sorgen, dass sich die Kultur und Kompetenz der Mitarbeiter und die Struktur der Organisation weitgehend parallel entwickeln.

Weitgehend parallel deshalb, weil um Beispiel die Führungskräfte, die im Betriebsalltag den Veränderungsprozess vorantreiben sollen, im Idealfall (ebenso wie die verantwortlichen Projektmanager) einen leichten Entwicklungsvorsprung vor der Organisation und den ihnen unterstellten zugeordneten Mitarbeitern haben sollten. Denn nur dann können von ihnen die nötigen Impulse für die Weiterentwicklung er Organisation und ihrer Teams ausgehen.  Zugleich gilt es jedoch, dafür zu sorgen, dass die Entwicklung der Organisation nicht zu weit hinter der Entwicklung der Mitarbeiter  und insbesondere der Führungskräfte zurückbleibt. Denn ansonsten kämpfen diese Tag für Tag mit scheinbar unüberwindbaren Hindernissen in ihrem organisatorischen Umfeld und sind irgendwann frustriert.

Die entsprechende Verzahnung von Personal- und Organisationentwicklung, sodass sich außer der Struktur auch die Kultur – also letztlich das System Unternehmen – wie gewünscht entwickelt, stellt meist die zentrale Herausforderung bei der Strategieumsetzung dar, denn nur dann stellen sich in der Regelnachhaltige Erfolge ein.

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