Eine mächtige Schleuse im hohen Norden

Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst

Deutsches Ingenieurblatt 10/2020
Kammer

Ingenieurbauwerke erfüllen ihre Funktion oft im Verborgenen. Das trifft auch auf die 1931 eingeweihte Nordschleuse in Bremerhaven zu. Die zur Bauzeit zweitgrößte Schleuse der Welt verrichtet seit mehr als 90 Jahren zuverlässig ihren Dienst und ist auch heute noch von elementarer Bedeutung für das Funktionieren des Hafenbetriebs. Die Nordschleuse in Bremerhaven wurde im Mai 2020 mit dem Titel „Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland“ geehrt – die Verleihfeier wurde durch die Corona-Pandemie bedingt ins kommende Jahr verschoben, das Buch zum Bauwerk kann bereits bestellt werden.

Wer einst über die Meere reiste, benutzte das Schiff. In den Häfen entstanden dafür leistungsfähige und komfortable Einrichtungen – zum Beispiel die an der offenen Weser entstandene Columbuskaje in Bremerhaven, der „Bahnhof am Meer“. Um die modernen Passagierschiffe reparieren zu können und bei Sturm sichere Liegeplätze hinter dem Deich zu haben, entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Nordschleuse.
Mit ihren Abmessungen sollte sie für lange Zeit den Ansprüchen auch von großen Schiffen genügen, denn Schiffsgrößen und -schleusen korrespondieren miteinander. Der Maßstab zur Zeit des Baus der Nordschleuse waren Passagierschiffe, vor allem die 286,10 m lange „Bremen“ und das etwa einen halben Meter kürzere Schwesterschiff „Europa“ des Norddeutschen Lloyd. Sie waren etwa 31 m breit und hatten einen Tiefgang bis zu 10,40 m.
Die Nordschleuse in Bremerhaven galt damals mit ihrer Länge von 372 m, der Durchfahrtsbreite von 45 m und der Drempeltiefe von 14,64 m unter mittlerem Hochwasser als zweitgrößte der Welt.

Außergewöhnliche Ergebnisse durch Betonierungsanlagen

Bereits am 13. Mai 1914 hatten Senat und Bürgerschaft der Freien Hansestadt Bremen die Mittel für das Nordschleusen-Projekt bereitgestellt. Zur Maßnahme gehörten außer dem Bau der eigentlichen Schleuse das benachbarte Wendebecken, die drehbare Steubenbrücke, der verlängerte Verbindungshafen und das verlängerte Kaiserdock II. Bald darauf wurden die Arbeiten begonnen, dann aber wegen des Ersten Weltkriegs 1916 eingestellt. Der Bau sollte eigentlich mit allen Mitteln fortgesetzt werden, um dem nach dem Krieg einsetzenden starken Überseeverkehr gewachsen zu sein. Doch es fehlten sowohl Facharbeiter als auch Material. Damals waren die Baugruben der Schleusenhäupter etwa acht Meter tief ausgehoben sowie ein Teil der hölzernen Spundwände gerammt. Die Baugruben wurden dann unter Wasser gesetzt, um das eingebrachte Holzwerk zu schützen.
Mit der Kiellegung der Dampfer „Bremen“ und „Europa“ beschloss die Bremer Bürgerschaft am 8. Juli 1927 den Weiterbau des Nordschleusen-Projekts. Im Dezember 1927 begannen die Erdarbeiten; mit den Rammarbeiten wurde im Frühjahr 1928 begonnen. Von 1928 bis 1930 schufteten ständig mehr als 1.000 Arbeiter, zum Teil in zwei Schichten, auf der Baustelle. Sie verfügten unter anderem über etwa zehn Bagger sowie etwa 20 Feldbahn-Lokomotiven mit mehr als 400 Loren. Bis zu 19 Rammen arbeiteten im Sommer 1928 an acht verschiedenen Stellen. Es wurden 26.000 Holzpfähle (bis zu 27 m lang) und 17.000 t Larssen-Spundbohlen (bis zu 28 m lang) gerammt. Im August 1928 begannen die Betonarbeiten und wurden Ende 1929 abgeschlossen, obwohl starker Frost im Winter 1928/29 die Arbeiten um vier Monate verzögerte. Anschließend wurde der Bau beschleunigt, indem an noch mehr Stellen gleichzeitig gearbeitet wurde. Mit den Betonierungsanlagen wurden außergewöhnliche Ergebnisse erzielt. Trotz hoher Einzelleistungen achtete man aber insgesamt auf eine gleichmäßige Auslastung. So wurden im August 1929 im Tagesdurchschnitt 890 m3 Beton verarbeitet. Insgesamt wurden auf der Baustelle etwa 245.000 m3 Beton eingebaut.
Anfang 1930 begann am Außenhaupt die Montage des Schiebetors. Der Bau des Binnentors, die Installation der Schützen, die Errichtung der Maschinenhäuser und die Hinterfüllung der Bauwerke wurden 1930 abgeschlossen.
Die Nordschleuse sollte laut ursprünglicher Planung nach vierjähriger Bauzeit Anfang 1932 in Betrieb gehen. Tatsächlich gab es eine vorzeitige Inbetriebnahme am 1. August 1931. Die offizielle Übergabe fand dann am 10. August, einem Montag, mit dem Schnelldampfer „Bremen“ statt, der von seiner 37. Reise nach New York zurückkehrte. Es war das erste Großschiff in der Kammer.

Schwieriger Baugrund in ständiger Bewegung

Der Bau war sehr ambitioniert. Das begann bereits bei dem in Bremerhaven schwierigen Baugrund. In der Tiefe lagert eine mehr als 20 m dicke Schicht Lauenburger Urton, darüber fester Sand und darüber Klei. Außerdem sind die Schichten unterschiedlich mächtig: Die Kleischicht ist zwischen 10 und 20 m, die Sandschicht zwischen 0,30 und 30 m dick. Dazu kommt, dass die Tonschicht und die Kleischicht schwer wasserdurchlässig sind. Deshalb gibt es dazwischen in der stark wasserführenden Sandschicht einen artesischen Druck von bis zu zwei Atmosphären. Außerdem ändert der Urton unter Belastung seinen Wassergehalt und damit seine Festigkeit. Sogar in kurzen Abständen verändert sich seine Beschaffenheit erheblich. Diese vorher nicht bekannte Eigenschaft war 1926/27 eine der Ursachen für die großen Schäden an der Columbuskaje.
Wegen der nunmehr bekannten Schwierigkeiten mit dem Baugrund ließen die Ingenieure den Boden unter der Nordschleuse, dem Vorhafen und der Steubenbrücke viel genauer untersuchen, als geplant. Für die Probenentnahme wurden zunächst etwa 100 tiefe Löcher gebohrt. Wegen stark schwankender Werte ließ man anschließend etwa 300 weitere Bohrungen vornehmen. Allein die Schubfestigkeitsbeiwerte schwankten beim Klei fast um das Doppelte, beim Urton um mehr als das Vierfache. Man fand durch die Überprüfungen eine stark wechselnde Mächtigkeit der Sandschicht ebenso wie ganz unterschiedlich weiche Stellen im Lauenburger Urton.
Daraufhin wurden die Konstruktionen der neuen Bauten der jeweiligen Bodenbeschaffenheit weitgehend angepasst. Außerdem war bekannt, dass sich der Boden in Bremerhaven ständig bewegt. Um stärkere Bewegungen rechtzeitig zu erkennen, wurden die Gezeitenwechsel während des Baus der Nordschleuse ständig gemessen.
Die Kenntnis des Untergrunds brachte auch für die Schleusenkammer einen großen Vorteil. Unter der heutigen Kammersohle befindet sich eine nur etwa 1,50 m starke Kleischicht, die dem Wasserdruck der darunterliegenden Sandschicht nicht standgehalten hätte. Um sie zu stabilisieren, hätte man den Kammerboden im Trockenen ausheben, mit Beton befestigen und die Kajen für die volle Baugrubenhöhe stärker ausbilden müssen. Dies hätte einen hohen Aufwand bedeutet. Deshalb verzichtete man auf eine Betonsohle. Stattdessen durchrammte man die wasserführende Sandschicht mit stählernen Spundwänden bis in den Urton hinein und bildete so einen unterirdischen Stahlrahmen. Damit ließ sich der hydrostatische Wasserdruck dort aufheben. So konnte die Schleuse billiger und schneller gebaut werden. Allein damit ließen sich drei Monate Bauzeit sparen.
Um den Bau zuverlässig zu gründen, mussten für die Kajen und die Schleusenkammer riesige Pfahlroste geschlagen werden, weil der tragfähige Baugrund viele Meter von der Baugrubensohle entfernt liegt. Erst auf diesem „Pfahlwald“ konnte man in Beton weiterbauen. Dies betraf die Seitenwände der Schleusenkammer ebenso wie die Kajen des Wendebeckens, des Verbindungskanals und vor allem des bis zu 120 m breiten und 350 m langen Schleusen-Vorhafens mit seiner Fahrwassertiefe von 16 m bei mittlerem Hochwasser.
Einen wichtigen Anteil an dem Konzept aber hat die vor dem Holzpfahlrost liegende Stahlspundwand. Die bis zu 28 m langen Spundbohlen der Bauart Larssen sind Teil des Kajentragwerks. Mit ihnen ließ sich außerdem die wasserdichte Umrandung herstellen, um den Wasserdruck in der Sandschicht zu neutralisieren. Holz und Stahlbeton schieden dafür als Materialien aus, weil sie von der unter dem Klei bis zu acht Meter dicken Sandschicht zerstört worden wären.
Die seit langem in Bremen typischen Kajenmauern sind eine Art Bockkonstruktion, in der sich Druck- und Zugpfähle in gegenseitiger Schräglage stabilisieren. Die Zugpfähle stehen innen und sind zur Wasserseite geneigt, die Druckpfähle stehen außen und neigen sich dem gewachsenen Boden zu. Auf diese Pfähle wird eine Stahlbetonplatte gesetzt. Sie ist zum Wasser hin als Mauer ausgebildet und auf der Rückseite durch kräftige, querstehende Rippen verstärkt. Direkt unter der Mauer gibt es weitere, senkrechte Pfähle (und die Stahlspundwand).

Die Häupter als gewaltige Betonbauwerke

Die Schleusenhäupter, also die Rahmen für die Schleusentore, wurden aus massivem Stahlbeton ohne ein weiteres Fundament auf der tragenden Sandschicht errichtet. Um Zeit und Kosten zu sparen, wurden Außen- und Binnenhaupt gleich ausgebildet. Die gewaltigen Bauwerke sind 110,10 m lang, im Mittel 30 m breit und etwa 25,50 m hoch. Allein die zwischen zehn und zwölf Meter breiten Torkammern, in welche die Tore zum Öffnen der Schleuse hineingezogen werden, sind mit etwa 20 m fast so tief und breit wie die Kammern der Schachtschleusen am Elbe-Seitenkanal in Uelzen.
Die Häupter entstanden im Trockenbau in Stahlbeton. Dafür wurde das vor allem in der Sandschicht reichlich vorhandene Grundwasser in den Baugruben im Schutz von Stahlspundwänden ausgepumpt. Auch mit den anderen im Baufeld der Nordschleuse arbeitenden Brunnen wurde der Grundwasserspiegel so weit gesenkt, dass die Baugrubenspundwände dicht blieben. Um dem Druck der Erdmassen begegnen zu können, wurden die etwa 23 m tiefen Baugruben der Häupter mit Querspundwänden in jeweils zwölf Einzelbaugruben zerlegt. Früher hatte man in solchen Fällen den Beton ohne Bewehrung in mächtigen Schichten unter Wasser eingebracht, in nur schlecht mit Holzspundwänden abgedichteten Baugruben.
In den trockenen Baugruben ließ es sich sicherer, sparsamer und schneller arbeiten. So reichte in der nunmehr errichteten Variante bei den Häuptern eine Sohlenstärke von 6,50 m aus. In der alten Version wären es neun bis zehn Meter gewesen. Da infolge des heterogenen Untergrunds Bewegungen auch später auftreten konnten, die wirkliche Größe der angreifenden Kräfte nicht einwandfrei festlag und das Bauwerk im Betrieb stark wechselnden Belastungen unterworfen ist, wurde der Stahlbetonbau relativ kräftig ausgelegt.
Neuartig waren auch die Umläufe. Über diese auf beiden Seiten der Tore durch die Häupter geführten Kanäle wird die Schleusenkammer mit Wasser gefüllt und geleert. Bei der Nordschleuse wurden die Umläufe durch die Torkammern hindurchgeführt, um sie kurz zu halten. Bei älteren Schleusen wurden die Umläufe um die Torkammern herumgeführt.
Dem Konzept bei der Nordschleuse waren Modellstudien der Berliner Versuchsanstalt für Wasserbau vorausgegangen. Trompetenförmig ausgebildete Öffnungen sorgen für einen günstigen Strömungsverlauf.
Auch mit diesen kürzeren Umläufen ließen sich Beton einsparen und die Bauzeit reduzieren. Allerdings musste statt nur einem Rollenschütz (Tafelschütz mit Rollen) jeweils eines vor und hinter der Torkammer in den Umlauf eingebaut werden, um den Zufluss zu steuern. Jeweils daneben gibt es Schlitze für Notschütze. Auf der anderen Seite der Häupter, neben der Tornische, reichten im Umlauf jeweils ein Haupt- und ein Notschütz. Damit ließ sich die Schleusenkammer bei einem Wasserstandsunterschied von etwa zwei Metern in 18 Minuten füllen oder leeren. Heute wird die Kammer über die Schleusentore gefüllt oder geleert.

Schiebetore in der Größe eines kleinen Schiffs

Bei Schleusenbauwerken sind riesige Stemmtore schwierig zu handhaben, weil sie – an Gelenken aufgehängt – im tiefen Wasser geklappt werden müssen. Da bei der Nordschleuse Toröffnungen von 45 m lichter Weite und knapp 20 m Höhe zu schließen waren, schieden hier außerdem Klapp- oder Hubtore aus.
Bei Schiebetoren gibt es keine Gelenke. Sie werden mit ihrer Schmalseite nur durch das Wasser geschoben. In der Spur gehalten werden sie bei der Nordschleuse in der Tiefe von auf dem Drempel verlegten Schienen sowie weiteren Schienen oben in den Torkammernischen. Dabei wird das Tor wie eine Schubkarre bewegt: Es ruht mit seiner Vorderseite auf einem Unterwagen, der mit seinen zwei Achsen auf den Drempelschienen rollt. Der ähnlich große, die Torrückseite haltende Oberwagen rollt oben in der Torkammer. Für Notfälle haben die Tore noch 0,40 cm breite Kufen aus Hartholz, die über eine Granitbahn geschoben werden. Dank des Schubkarrenprinzips mit einem kleinen Unterwagen müssen nur wenige unter Wasser liegende Teile gewartet werden. Der Oberwagen, und damit das ganze Tor, werden von zwei drucksteifen Gelenkzahnstangen gezogen und geschoben. Diese Gelenkzahnstangen sind Ketten mit 2,40 m langen Gliedern, die mit entsprechenden Führungen gegen Ausknicken gesichert sind. Im Maschinenhaus laufen die Zahnstangen über große Ritzel, die von Elektromotoren gedreht werden. Um die Tore beim Versagen der Antriebsanlagen bewegen zu können, gibt es auf der Westseite bei der Häupter– inzwischen stillgelegte – Spillanlagen.
Das gewaltige Tor mit einem Gewicht von 1.100 t ruht nicht allein auf dem Ober- und dem Unterwagen. Ein etwa in halber Torhöhe eingebauter und mit Luft gefüllter Schwimmkasten sorgt für einen Auftrieb des Tors im Wasser. Von den 20 wasserdichten Zellen lassen sich acht Zellen mit Ballastwasser füllen, sodass sich auch das Tor trimmen lässt. Ohnehin haben allein die Schleusentore etwa die Größe kleinerer Schiffe: 47,20 m lang, 19,50 m hoch und 8,90 m breit. Die relativ große Breite des Tors bietet beim Bewegen eine hinreichende Querstabilität gegen Strömung, Wasserstau und Wind bei möglichst niedrigem Torgewicht.
Die Tore sind auch eine Kombination aus Schiebe- und Schwimmbrücken. Sie tragen jeweils eine Straße und dienen im geschlossenen Zustand dem Auto- und Fußgängerverkehr.

Die Ingenieure der Nordschleuse

Das ursprüngliche Konzept für die Nordschleuse stammt von Hafenbaudirektor Federico Claussen (1865–1940). Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1930 begleitete Claussen 35 Jahre lang die Entwicklung der Hafenanlagen in Bremerhaven, unterbrochen von nur zwei Jahren, in denen er Leiter des Bauamts für die Unterweserkorrektion in Bremen war.
Claussen und der Baurat Friedrich Andreßen legten am 18. Dezember 1926 den überarbeiteten Entwurf für die Nordschleuse vor. Seit 1927 leitete der junge Baurat Arnold Agatz (1891–1980) den Bau der Nordschleuse. Der aus Hannover stammende Agatz hatte dort an der Technischen Hochschule seit 1911 Bauingenieurwesen studiert. Ende 1922 wechselte Agatz in die Hafenverwaltungen von Geestemünde und Bremen, bevor er 1927 – seit 1930 als Hafenbaudirektor – die Oberbauleitung für die Nordschleuse übernahm.
1931 berief die Technische Hochschule Berlin-Charlottenburg Agatz auf den Lehrstuhl für Grundbau, Wasser-, Hafen- und Seebau. Dort endete seine Tätigkeit 1945. Er kehrte nach Bremen zurück und arbeitete wieder in seinem Ingenieurbüro, das er Anfang 1936 als Arbeitsgemeinschaft Agatz&Bock (Berlin/Köln) mit dem Kölner Oberbaurat Franz Bock gegründet hatte.

Dieser Beitrag enthält Auszüge aus dem Buch „Die Nordschleuse Bremerhaven“ von Sven Bardua, Band 26 der Reihe „Historische Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland“. Herausgeber ist die Bundesingenieurkammer. Mit der ISBN 978-3-941867-36-9 kann das Buch ab sofort unter www.wahrzeichen.ingenieurbaukunst.de bestellt werden.

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