Am Rande des Weltwirtschaftsforums wurde im Januar 2018 die Davos Declaration „towards a high-quality Baukultur for Europe“ von 35 Nationen und Institutionen verabschiedet – für die Bundesregierung durch das Bauministerium. Damit wurde zum Auftakt des Europäischen Kulturerbejahrs ein aktives Zeichen gegen eine zunehmende Trivialisierung des Bauens und eine Vernachlässigung des historischen Bestands gesetzt. Dies geschehe, so heißt es: „in der Erkenntnis, dass eine gebaute Umwelt von hoher Qualität wesentlich zur Bildung einer nachhaltigen Gesellschaft beiträgt, die sich durch eine hohe Lebensqualität, kulturelle Vielfalt, Wohlbefinden der Individuen und der Gemeinschaft, soziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt sowie eine leistungsstarke Wirtschaft auszeichnet.“
Wenn wir uns eine Europakarte ansehen, so ist der räumliche und infolgedessen soziale Zusammenhalt durch die technische Infrastruktur von Straßen, Schienen- und Wasserwegen offenkundig. Häufig basieren diese Verbindungen auf historischen Strukturen. Heute bringt das Erbe spezielle Herausforderungen bei der Instandhaltung, Nutzung und im Betrieb mit sich. Neben den denkmalgeschützten Bauten gehören also eine Vielzahl an heterogenen Ingenieurbauwerken zu einem erweiterten Begriff des gebauten Erbes.
Identitätsbildende regionale Wahrzeichen
Räumlicher Zusammenhalt und grenzüberschreitende Zusammenarbeit wären leere Begriffe, ohne die uns physisch verbindende Infrastruktur. Ohne Straßen, Schienen, Brücken und Wasserwege. Das ist auch in Zeiten der umfassenden Digitalisierung und des bevorstehenden technologischen Mobilitätswandels heute und in Zukunft so. Erstaunlicherweise spielen Ingenieurleistungen und Ingenieure beim Europäischen Kulturerbejahr 2018 keine dominante Rolle. Eigentlich unverständlich, denn die heute zum Teil mehr als 100-jährigen Industrie-, Infrastruktur- oder Brückenbauwerke sind teilweise zu regionalen Wahrzeichen geworden und direkt identitätsbildend für ihr Umfeld. Die Bundesingenieurkammer zeigt dies mit ihrer ausgezeichneten Dokumentationsreihe „Historische Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland“ eindrucksvoll.
Die letzte, im Sommer dieses Jahres vergebene Auszeichnung „Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst“ an den Ludwig-Donau-Main-Kanal spricht zum Thema der Geringschätzung oder des fehlenden Hintergrundwissens sprichwörtlich Bände. So ist zunächst der wunderbare Dokumentationsband mit einem ehrlichen und unprätentiösen Foto eines ehemaligen Schleusenbereichs mit Schleusenwärterhaus versehen, bei dem selbst interessierte, aber reiz-überflutete Adressaten sagen: „Ja und …? Wo ist die Attraktion?“
Und jetzt schließt sich das an, was Ingenieure und Bauschaffende viel öfter machen sollten: „tell a story“, erzähle die Geschichte dahinter. Und da leistet das 22. Heft der Schriftenreihe „Historische Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst“ wie alle Vorgängerbände hervorragende Arbeit. Spannender und umfassender über das Bauwerk, Ingenieurbaukunst und Baukultur kann kein abendfüllender Dokumentarfilm informieren und schon gar kein „Tatort“ unterhalten. In 90 Minuten Lesezeit ist alles zusammengetragen, was den zuvor geneigten Leser anschließend zum Baukulturfan macht. Und im Fall des Ludwig-Main- Donau-Kanals zum Verbündeten einer europäischen, grenzüberschreitenden Baukulturidee.
Mit der Überquerung des Donau- und Rhein-Mainsystems kommt dem ehrgeizigen Bauvorhaben im 19. Jahrhundert eine besondere Stellung zu: Es flossen Erfahrungen aus 150 Jahren Kanalbau in das Projekt ein. Heute sind noch 65 km der ehemals 172,4 km langen Wasserstraße erhalten, die zwischen 1836 und 1846 entstand. 264 Meter Höhenunterschied wurden mit 100 Schleusen überwunden. Schon seit Karl dem Großen, also seit mehr als 1200 Jahren gab es diesen ingenieurmäßigen und politischen Traum der Überwindung der Europäischen Hauptwasserscheide.
Mit welcher baukulturellen – oder man hätte sie seinerzeit vermutlich „baumeisterlich“ genannt – Perfektion das Vorhaben nicht nur geplant, sondern auch umgesetzt wurde, sieht man am Brückkanal über die Schwarzach in Feucht. Ursprünglich als Damm-Brückenlösung geplant, wurde er später mit konstruktivem Gewölbe ausgeführt, das im Widerlager einen kathedralhaften Innenraum schafft. An römische Viadukte erinnernd ist es noch heute eine beeindruckende und ingenieurmäßig nachhaltige Lösung auf schwierigem Baugrund.
Heute ergänzt die Suchfunktion im Internet die Worte Ludwig-Donau-Main-Kanal mit „radeln“, „paddeln“, „wandern“ oder „Biergarten“. Tatsächlich ist der ehemalige Kanal inzwischen ein blaues oder grünes Band touristischer Infrastruktur. Auch ein Beweis dafür, mit welcher Umsicht hier eine landschaftsintegrierte Infrastruktur entstanden ist. Der ganzheitliche Gestaltungsansatz hatte nicht nur eine technische Nutzung ermöglicht, sondern auch ästhetische Merkmale und kulturlandschaftliche Schönheit berücksic tigt.
Positive Auswirkungen auf Lebensqualität undStadtentwicklung
Es ist eben nicht egal, wie Ingenieurbauwerke in unserer Umwelt wirken, wie sie gestaltet sind und uns in unserem Alltag prägen. Und dass die gebauten Lebensräume unser Wohlbefinden und unseren positiven oder negativen Blick auf die Welt beeinflussen, steht zweifelsfrei fest. Bedeutsame Bauwerke sind Anlass für Bürgerstolz und häufig touristische Ziele. Aber auch unsere Alltagswelt wirkt unbewusst auf unsere Stimmung. Sie prägt uns durch ein identitätsstiftendes Stadt- oder Ortsbild und einen öffentlichen Raum, in dem sich Menschen gerne aufhalten. Baukultur hat positive Auswirkungen auf die Lebensqualität und die wirtschaftliche Entwicklung von Städten und Gemeinden. Im Fall des Ludwig-Main-Donau-Kanals könnten wir sagen: „Das ist Geschichte.“ Ist es aber nicht. Die freizeitbezogene Nutzung als neue touristische Infrastruktur dient nicht nur der Erholung, sondern auch der Reflexion über Ingenieurtechniken, die gleichermaßen visionär, machbar und zivilisationsfördernd sind. Und dazu noch in besonderer Weise den europäischen Gedanken zur Entfaltung bringen.
Aktuell sind wir von der visionären Kraft des Ludwigkanals weit entfernt. Ingenieurtechnische Höchstleistungen wie Stuttgart 21 scheitern in der öffentlichen Würdigung an der Kosten- und Zeitdebatte. Bis zur Qualität kommen wir gar nicht und wenn, dann höchst kontrovers. Dabei ist klar, dass in hundert Jahren der dann epochale Beitrag zur europäischen Raumintegrität als unverzichtbar und als ziviltechnisch weitsichtig gelobt werden wird. Beim neuen Gotthard-Tunnel ist das heute schon so.
Aus Sicht der Bundesstiftung gehören Ingenieurbaukunst und beispielhafte Ingenieurleistungen als ein fester Bestandteil zur europäischen Baukultur. Um bei den Entscheidungsträgern aus Politik, Bauverwaltung, Planung, Immobilien- und Bauwirtschaft und in der Öffentlichkeit für Bauqualität und Baukultur zu werben, sind auch und erade die Ingenieure gefragt.machbar und zivilisationsfördernd sind. Und dazu noch in besonderer Weise den europäischen Gedanken zur Entfaltung bringen.
Die Bundesstiftung Baukultur lädt ein: Der Konvent der Baukultur 2018
Die Bundesstiftung lädt am 6. und 7. November 2018 zum Konvent der Baukultur nach Potsdam ein. Der Konvent der Baukultur 2018 wird mit einem sogenannten „Basislager“ am 6. November zu aktuellen Themen der Baukultur starten. Den Teilnehmenden stehen fünf offene Foren zur Auswahl: ein Planspiel mit Studierenden zu Standards im Bestandsumbau, ein Forum zur Innenentwicklung und Reduktion von Flächenverbrauch, Baukultur in der Bildung, ein Netzwerktreffen für Baukulturinitiativen sowie das dritte bundesweite Treffen der Gestaltungsbeiräte. Am Werkstatttag, dem 7. November, wird der Baukulturbericht 2018/19 „Erbe – Bestand – Zukunft“ vorgestellt und ist im Fokus mehrerer Themenwerkstätten stehen. Während des Konvents der Baukultur eröffnet die Ausstellung „Grenzen Borders“ mit prämierten Bildserien des Europäischen Architekturfotografie- Preises in Potsdam. Die Online-Anmeldung zum Konvent der Baukultur ist über die Website der Bundesstiftung möglich. www.bundesstiftung-baukultur.de/
veranstaltungen/6-7-november potsdam
Baukulturbericht 2018/19 „Erbe – Bestand – Zukunft“
Die Rolle der Ingenieure und die Relevanz von Ingenieurbauten für die Baukultur lassen sich nicht nur in Worten sondern auch in bauwirtschaftlich relevanten Zahlen ausdrücken, die wir in unserem kommenden Baukulturbericht 2018/19 neben vielen einprägsamen Fakten, Positionen und Beispielen zur aktuellen Lage der Baukultur in Deutschland zusammengetragen haben. Der Bericht widmet sich dem Thema „Erbe – Bestand – Zukunft“ und wird erstmalig während des nächsten Konvents, der am 6. und 7. November 2018 in Potsdam stattfindet, öffentlich vorgestellt.
Der Baukulturbericht 2018/19 widmet sich dem gebauten Erbe und den Herausforderungen für die Zukunftsfähigkeit unserer gestalteten Umwelt. Unter dem Titel „Erbe – Bestand – Zukunft“ thematisiert er u. a. die energetische Erneuerung der Bestandsarchitekturen und -infrastrukturen, vor allem aus der Epoche der Nachkriegsmoderne, als eine der größten Bauaufgaben in den kommenden Jahren. Die Baukulturberichte 2014/15 „Gebaute Lebensräume der Zukunft – Fokus Stadt“ und 2016/17 „Stadt und Land“ haben bereits die Bedeutung des Bestands hinsichtlich seiner identitätsstiftenden Wirkung und seiner baukulturellen Potenziale aufgezeigt, etwa mit Blick auf Flächen- und CO2-Einsparunen.
Neben relevanten Einflussfaktoren für eine erfolgreiche mbaukultur liefert der Baukulturbericht 2018/19 aktuelle Fakten aus Kommunal- und Bevölkerungsumfragen und zeigt Beispiele zeitgemäßer Umbaukultur. Die daraus hervorgehenden Handlungsempfehlungen richten sich an Vertreter aus Politik, Verwaltung, Planung und Bauwirtschaft sowie an alle interessierten Beteiligten der Baukultur.