Neuer Kontrollraum führt zu mehr Betriebsqualität

Elektronenspeicherringe Bessy II und MLS

Deutsches Ingenieurblatt 9/2019

Als einer von nur wenigen Anbietern weltweit stellt das Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB) mit dem Elektronenbeschleuniger Bessy II am Standort Berlin-Adlershof eine leistungsfähige Infrastruktur für die Forschung mit Synchrotron-Strahlung bereit. Bis August 2013 wurde die Anlage – ebenso wie der Speicherring MLS – von einem historisch gewachsenen Kontrollraum aus betrieben, der relativ laut, unübersichtlich und schlecht klimatisiert war. Um den Operatoren zukünftig optimale Arbeitsbedingungen zu bieten und die Grundlage für eine noch höhere Verfügbarkeit der Beschleuniger zu schaffen, entschieden sich die Verantwortlichen für einen umfassenden Umbau. 

In der Elektronenspeicherringanlage Bessy II werden Elektronen erzeugt, vom Vorbeschleuniger „Synchrotron“  auf 1,7 Mrd. eV – also nahezu auf Lichtgeschwindigkeit – beschleunigt und anschließend in den Speicherring eingespeist. Dort kreisen sie mehrere Stunden und erzeugen durch Ablenkung beziehungsweise Bahnänderung Synchrotronstrahlung, die Wissenschaftlern an circa 40 sogenannten Beamlines zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt wird. Die Qualität der Synchrotronstrahlung und der hochzuverlässige Betrieb der Anlagen Bessy II und MLS werden durch eine Leitwarte gewährleistet, in der sich die notwendigen Betriebsmodi einstellen sowie Betriebsparameter überwachen und regeln lassen.  

Längerer Aufenthalt vermieden
Bis zum August 2013 befand sich dieser Leitstand jedoch in Räumlichkeiten, die durch die Nachteile einer historisch gewachsenen Kontrollrauminfrastruktur gekennzeichnet waren: „Durch die Geräusche verschiedener Mess- und Diagnosegeräte sowie Rechner war der Kontrollraum laut. Zudem war er schlecht klimatisiert, wozu auch die Wärmeentwicklung durch den Betrieb der Geräte und PCs beitrug“, so Ingo Müller, Operations-Manager beim HZB. Durch die ungünstige Beleuchtung mit 50-Hz-Leuchtstoffröhren konnte es zudem zu Interferenzen mit den Bildschirmen kommen. Da der Raum außerdem aufgrund vielfältiger nachträglich installierter Kabel und Geräte unübersichtlich war und keine ergonomische Ausstattung besaß, wurde eine längere Anwesenheit dort schnell zu einer Belastung für die Operatoren. „Der Operatordienst ist im HZB so organisiert, dass die etwa 45 Mitglieder der technischen Fachgruppen diese Aufgabe im Rahmen eines Schichtdiensts zusätzlich zu ihrer Hauptbeschäftigung übernehmen“, erklärt Müller. „Die beiden Kollegen pro Schicht – einer ist für Bessy II zuständig, einer für die MLS – haben keine Präsenzpflicht in der Leitwarte. Stattdessen führen sie ein schnurloses Telefon mit sich, das Abweichungen und Alarme sofort anzeigt.“ Geht eine entsprechende Meldung ein, begeben sie sich in den Kontrollraum und leiten Maßnahmen ein. „Diese Arbeit direkt in der Leitwarte war vielfach unbeliebt und ein längerer Aufenthalt wurde möglichst vermieden“, so Müller weiter.

Steigende Ansprüche an Verfügbarkeit und Betriebsmodi
Das HZB entschied sich daher, die vorhandenen Räumlichkeiten drastisch umzugestalten. Durch einen neuen, klar strukturierten und übersichtlichen Kontrollraum sollten die Arbeitsbedingungen der Leitwartenfahrer und damit auch die Qualität beim Betrieb der Beschleunigeranlagen verbessert werden. Ziel des HZB war es dabei insbesondere, den steigenden Anforderungen an komplexere Betriebsmodi und eine immer höhere Anlagenverfügbarkeit Rechnung zu tragen. „Beide Punkte sind für uns als Betreiber von Beschleunigern sehr wichtig“, erklärt Müller. „Für die Forscher, die zu uns kommen, ist es essentiell, eine möglichst zuverlässige Anlage zu haben, um den von ihnen gebuchten Zeitraum optimal nutzen zu können. Sie werden daher möglichst einen Beschleuniger mit einer besonders hohen Verfügbarkeit für ihre Untersuchungen auswählen. Entsprechend sind hohe Verfügbarkeitswerte unser Kapital; wir – wie alle anderen Betreiber auch – geben diese Daten bekannt und vergleichen uns darüber.“ Gleichzeitig steigen auch die Ansprüche an mögliche Betriebsmodi, das heißt, an die speziellen Füllmuster, in denen die Elektronen im Speicherring kreisen. Auch diese möglichen Fillpatterns wirken sich auf die Attraktivität einer Beschleunigeranlage aus, da sie beeinflussen, welche Untersuchungen die Wissenschaftler vornehmen können. 

Nach einer eingehenden Recherche sowie einem Besuch des JST-Kontrollraum-Simulators in Buxtehude wurde Jungmann Systemtechnik mit der Gestaltung des neuen Kontrollraums betraut. „Überzeugt hat uns besonders der Besuch des Kontrollraum-Simulators, wo uns das JST-System vorgeführt wurde und wir selbst sehen konnten, dass eine Integration vorhandener Messgeräte wie Oszilloskope oder Spektrum-Analyzer kein Problem ist“, so Müller, der am HZB für das Projekt verantwortlich zeichnete. „Auch der Verzicht auf den Einsatz fremder Software auf unseren Rechnersystemen war für uns ein wichtiges Argument für diese Lösung.“ Im Anschluss an die Beauftragung wurde gemeinsam ein individuelles Konzept für die Bessy II- und MLS-Leitwarte erarbeitet. „Dabei haben wir auf ersten Planungen aufgebaut, die Ingo Müller und sein Team bereits vorgenommen hatten, und unser langjähriges Know-how im Leitwartenbau – zum Beispiel hinsichtlich Grundriss, technischer Architektur und Arbeitsergonomie – eingebracht“, erläutert Timo Bredehöft, Konsultant bei JST, der das HZB betreut.

Klar strukturierte Leitwarte mit flexiblen Arbeitsplätzen Der komplette Umbau des Kontrollraums erfolgte vom 5. August bis zum 21. September 2013 – also innerhalb eines engen Zeitfensters von sechs Wochen, wovon nur zwei für JST vorgesehen waren. Am 23. September 2013 ging die Leitwarte planmäßig wieder in Betrieb; damit wurde auch der umbaubedingte Anlagen-Shutdown von Bessy II und MLS beendet. Die umgestalteten Räumlichkeiten umfassen nun sieben Arbeitsplätze, die mit je zwei oder drei Monitoren und jeweils einer Maus-Tastatur-Einheit ausgestattet sind. Zudem sorgt ergonomische Möblierung wie ein höhenverstellbares Kontrollraumpult für komfortables Arbeiten. Ebenfalls befindet sich eine proaktive Display Wall mit acht Bildschirmen im Raum. Dagegen wurden sämtliche Rechner sowie Mess- und Diagnosegeräte in einen benachbarten, separaten Technikraum beziehungsweise an Messstellen im Feld ausgelagert. Das reduziert sowohl die Wärmeentwicklung im Kontrollraum als auch die Geräuschkulisse. Zu letzterer tragen neben der schallabsorbierenden Verkleidung der Großbildwand auch die abgehängte Decke und der doppelte Boden bei.

Für das HZB war auch die Skalierbarkeit des Systems von Bedeutung: Es sollte problemlos erweiterbar und Komponenten selbst sollten noch nach Jahren ersetzbar sein. Beides ist bei der Lösung gegeben. Ersteres wird sichergestellt, indem die zentrale Komponente des Systems, das sogenannte Multicenter, so ausgelegt wurde, dass Kapazitäten für zukünftige Quellen frei bleiben. Außerdem erfolgte eine Beratung, wie viele freie Ports zum Beispiel für die nächsten fünf Jahre benötigt werden könnten. Unterschiedlichste Systeme von verschiedenen Herstellern lassen sich außerdem per Plug & Play anschließen und stehen sofort für die Bedienung bereit. Ebenso leicht kann ein Austausch von Komponenten vorgenommen werden. So ließ sich mit dieser Lösung insgesamt der Bedienkomfort am Arbeitsplatz deutlich erhöhen. 

Der neue Kontrollraum ist klar strukturiert und bietet mit der proaktiven Großbildwand einen schnellen Überblick über die aktuelle Betriebssituation. Für eine intuitive, benutzerfreundliche Bedienung und ein effizientes Arbeiten in der Leitwarte sorgt dabei ein eigens von JST entwickeltes Softwaresystem zur Steuerung von Arbeitsplätzen und Großbildsystemen, das es unter anderem ermöglicht, von jedem Arbeitsplatz aus auf alle Informationen zuzugreifen: Monitore werden durch MultiConsoling korreliert. Das heißt, der Anlagenfahrer kann seine Displays frei belegen. Er holt sich immer die Anzeige auf einen der eigenen Bildschirme, die er gerade braucht. Die Bilddarstellung und Tastatur-/Maus-Bedienung erfolgen dabei in Echtzeit.  l

Zugriff auf Mess- und Diagnosegeräte
Für eine komfortable und intuitive Bedienung der verschiedenen Systeme sorgt die Benutzeroberfläche. In dieser interaktiven 3D-Oberfläche für das MultiConsoling werden alle Konsolen der Arbeitsplätze sowie die Großbildwand als grafisches Modell der Leitwarte dargestellt. Alle benötigten Quellen sind abgebildet und können über ihre Icons an den Arbeitsplatz gezogen und bedient werden. Die Operatoren des HZB nutzen dieses Feature beispielsweise, um auf die angebundenen Mess- und Diagnosegeräte zuzugreifen, deren Daten abzulesen und sie zu konfigurieren. „Ein Messgerät-Fenster kann außerdem vom Arbeitsplatz auf die Display Wall gezogen werden“, erklärt Müller. „Gibt es einen komplexen Sachverhalt zu diskutieren, kann das dann ganz bequem mit mehreren Personen vor der Großbildwand geschehen.“ Umgekehrt lassen sich auch Messprogramme, deren Fenster sich normalerweise an der Display Wall befinden, für eine Einstellung bei Bedarf an einem der Arbeitsplätze aufschalten. Zusätzlich können in der Bedienoberfläche auch  vordefinierte Szenarien angelegt werden, die anschließend automatisch, einfach per Mausklick, ausgelöst werden können. So hat das HZB beispielsweise die Action „Präsentationsmodus“ angelegt, bei der auf Knopfdruck über die Hotkey-Leiste am Leitwartenpult die Großbildwand – mit Ausnahme von ein paar betriebswichtigen Diagrammen am Rand – komplett leergeschaltet werden kann. Weitere Actions im Beschleuniger-Kontrollraum sind ein automatischer Display-Wall-Umschaltmodus zwischen Tag und Nacht sowie das Anwählen des ins MultiConsoling eingebundenen Redundanzsystems für die Ansteuerung der Großbildwand.

Optimierungen durch den neuen Kontrollraum
Der neue Kontrollraum wird seit mittlerweile sechs Jahren genutzt und ist zu einem wichtigen Bestandteil des Beschleunigerbetriebs geworden. Er bietet die Grundlage für professionelle Arbeit und zuverlässigen Betrieb. Zudem dient er als ein Ort für die Maschinenweiterentwicklung, für Krisengespräche, Trainings und die Repräsentation. So kommt die Geschäftsführung zum Beispiel häufig mit Gästen in den Kontrollraum, um das Unternehmen in dieser Umgebung zu präsentieren. Nach der Umgestaltung profitiert das HZB unter anderem von einer besseren und schnelleren Übersicht über die aktuelle Betriebssituation mittels Großbildwand und konnte die Verfügbarkeit der Anlagen steigern. 

Auch die Betriebsdisziplin und die Identifikation der Operatoren mit ihrem Dienst haben zugenommen: Der Raum hat bei den Mitarbeitern eine höhere Motivation und Wertschätzung der Arbeit ausgelöst und ihnen in ihrer Aufgabe mehr Selbstwertgefühl gegeben. „Dies war für uns der Beginn eines Kulturwandels, der dazu geführt hat, dass unter anderem professionelle Tools und Betriebsstatistiken implementiert wurden“, so Müller. Die Operatoren führen beispielsweise ein elektronisches Logbuch und Betriebsdaten werden so aufbereitet, dass die Verfügbarkeit der Anlage über das ganze Jahr hinweg exakt in einem Diagramm abgelesen werden kann. Bei Schichtwechsel hat sich zudem ein Übergabeprotokoll eingebürgert, das nun auch länger besprochen wird. Die Aufenthaltszeiten im Kontrollraum haben sich somit deutlich erhöht.

Eine 360°-Aufnahme der Leitwarte mit Erklärung der installierten Komponenten finden Sie unter: www.jungmann.de/360-touren/jst-helmholtzzentrum-berlin.htm

Typische Daten auf der Großbildwand

Angezeigt werden relevante Betriebsparameter, Alarme und Signale von Messgeräten sowie Betriebsdaten – darunter Schichtbesatzung und Verfügbarkeit. Zu den Betriebsparametern zählen:

  • Injektionseffizienz: Die Injektionseffizienz ist das Maß dafür, wie effizient das Einschießen der erzeugten Elektronen in den Speicherring ist. Sie ist ein Sicherheitskriterium und muss extrem hoch gehalten werden, da Elektronen, die vor dem Speicherring verloren gehen, unerwünschte Bremsstrahlung erzeugen.
  • Elektronenlebensdauer: Ein Elektron kreist 1,25 Billionen mal pro Sekunde im Speicherring. Die mittlere Elektronenlebensdauer beträgt sechs bis acht Stunden.
  • Fillpattern im Speicherring: Dabei handelt es sich um das Füllmuster beziehungsweise die Elektronenverteilung im Speicherring.
  • Synchrotron-Fillpattern und Synchrotronstrom: Auch im Vorbeschleuniger Synchrotron, in dem die Elementarteilchen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit gebracht werden, gibt es ein Füllmuster. Der Synchrotronstrom ist dagegen das Maß für die Anzahl der Elektronen, die im Vorbeschleuniger kreisen.
  • Pulse in der Injection- und Transferline: Über die Injection- und Transferlinie gelangen die Elektronen vom Vorbeschleuniger in den großen Speicherring. Auch in diesem Bereich werden die Elektronen gemessen.
  • Vakuumdrücke verschiedener Sektionen: Die Speicherringanlagen sind in Sektoren unterteilt, die mittels Schotten abgetrennt werden können. Dort wird ein Vakuum benötigt. Der Vakuumdruck wird überwacht, um Bereiche mit einem Leck schnell identifizieren und separieren zu können.
  • Phasen der Speicherringsender: Das HZB nutzt mehrere Hochfrequenzsender, um den Elektronen im Ring, die Synchrotron-Strahlung abgegeben haben, neue Leistung zuzuführen. Die Phasen dieser Sender müssen genau übereinander liegen.

Was ist Bessy II?

Das im Jahr 2009 gegründete Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und Energie (HZB) konzentriert sich auf die Energie-Material-Forschung. Für diese Aufgaben stehen am HZB besondere Infrastrukturen zur Verfügung, die auch für externe Forscher zugänglich sind. Die Photonenquelle Bessy II liefert Synchrotronstrahlung vom Terahertz- bis in den Röntgenbereich. Mit dem Schwerpunkt auf VUV- und weicher Röntgenstrahlung ist Bessy II auf die Analytik von Dünnschichtsystemen abgestimmt. Die Weiterentwicklung der Instrumente und der Ausbau von Bessy II zu einem variablen Speicherring (Bessy-VSR) gehören zu den wesentlichen Zielen für die nächsten Jahre. Die Neutronenquelle BER II, die für ihren sehr rauscharmen Neutronenfluss bekannt ist, steht den Nutzern noch bis Ende 2019 zur Verfügung. Zirka 3000 externe Wissenschaftler aus 35 Ländern nutzen die beiden Großgeräte pro Jahr. 500 bis 600 Publikationen in Fachzeitschriften erscheinen jährlich, die auf Messungen an Bessy II und BER II zurückgehen. Zudem betreibt das HZB zwei weitere Anlagen für externe Institutionen, darunter im Auftrag der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) die Metrology Light Source (MLS).

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