Am 1. Juli 1998 trat die Baustellenverordnung in Kraft und hat die europäische Baustellenrichtlinie 92/57/EWG in deutsches Recht umgesetzt. Ziel war, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten auf Baustellen zu verbessern, die berufsbedingt einem hohen Unfall- und Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind. Doch was hat diese damals neuartige und in Deutschland auch nicht gerne aus der EU-Baustellen-Richtlinie übernommene Verordnung gebracht? Welche Entwicklung hat sie in der Umsetzung genommen? Und kann von einer erfolgreichen Umsetzung gesprochen werden? Dieser Beitrag beschäftigt sich auch mit der Wahrnehmung der Arbeit eines SiGe-Koordinators auf der Baustelle und der Frage, ob durch einen SiGe-Plan Unfälle vermieden wurden.
Es gibt naturgemäß keine Statistiken zu nachweislich vermiedenen Unfällen auf Baustellen. Seit jeher ist es das Los aller Arbeitsschützer, dass sich deren Arbeit und damit ihr Wirken schwer bewerten lässt. Einziges Indiz sind die absoluten Unfallzahlen: Wie viele Schwerverletzte und Tote gab und gibt es auf Baustellen? Steigen die Kurven oder sinken sie? Aber auch hier fällt es schwer, die vorhandenen Statistiken zu deuten: Der prozentuale Anteil schwerer und tödlicher Unfälle je 1000 Beschäftigter im Bauwesen nahm im Lauf der vergangenen Jahre stetig, wenn auch nur jeweils leicht ab. Die Gesamtzahl der Unfälle mit Todesfolge hat zuletzt wieder geringfügig zugenommen, dem derzeitigen Bauboom geschuldet. Steht nun die Reduzierung schwerer Unfälle im Zusammenhang mit einem positiven Wirken der Koordinatoren oder müsste eine deutlichere Abnahme erwartet werden, wenn die Koordination so greifen würde, wie es der Gesetzgeber einst gewollt hat?
Nur Glück gehabt?
Unabhängig davon kann eine Unfallstatistik kein alleiniger Maßstab sein: Eine in arbeitsschutztechnischer Hinsicht hervorragend geführte Baustelle ist nicht automatisch schlecht, wenn sich beispielsweise durch ein Augenblicksversagen einer einzelnen Person ein schwerer Unfall ereignet. Auch können Baustellen im Nachhinein nicht als „gut“ bezeichnet werden, wenn dort zwar kein schwerer Unfall geschah, aber nachweislich über die gesamte Bauzeit gravierende Arbeitsschutz- Mängel vorhanden waren. Hier hatten alle Beteiligten vermutlich unsagbar viel Glück. Wenn man Glück als Bewertungsansatz heranziehen wollte, könnte man alle Aktivitäten einstellen und auf Glück hoffen – was sicher der falsche Ansatz ist.
Nach 20 Jahren Berufserfahrung auf diesem Gebiet lässt sich meiner Ansicht nach sagen: Ja, die Baustellenverordnung hat etwas verändert. Wurde der Arbeitsschutz auf Baustellen davor eher stiefmütterlich behandelt, steht dieses wichtige Thema nun viel mehr im Fokus. Es wird heute nicht mehr diskutiert, ob ein Koordinator notwendig und/oder sinnvoll ist – er ist einfach da. Und er wird als Mitglied des bauüberwachenden Teams akzeptiert, wenn auch immer nochnicht überall gern gesehen.
Es liegt an uns, wie wir diese Funktion ausfüllen, wie wir die gesetzliche Vorgabe mit Leben erfüllen. Das passiert auch nach 20 Jahren noch in sehr unterschiedlicher Weise: Angefangen bei einer nicht wahrnehmbaren, weil nicht vorhandenen oder unscheinbaren Präsenz über eine gelegentlich die Baustelle besuchende, den mahnenden Finger hebende Person bis hin zum Wirken als (Ersatz-)Sicherheitsfachkraft für die gesamte Baustelle.
Den entscheidenden Hebel in der Planungsphase umlegen
Die Baustellenverordnung hat uns in der Ausgestaltung der dort festgelegten Aufgaben sehr viel Handlungsspielraum gegeben (nur marginal eingeengt durch die konkretisierendenRegeln zum Arbeitsschutz auf Baustellen, den RAB), den es sicher lohnt, im positiven Sinne zu nutzen – der aber auch zu kritisch zu betrachtenden Fehlentwicklungen eführt hat.
Die Baustellenverordnung wurde als rgänzung bestehender Arbeitsschutz-Vorschriften konzipiert – nicht als Ersatz. DieArbeitgeber-/Unternehmer-Verantwortung sollte und soll an keiner Stelle minimiertoder gar ganz aufgehoben werden. Diesbezüglich ist es sicher kritisch zu betrachten, wenn ein Koordinator durch sein Wirken die Arbeit der unternehmerseitigen Sicherheitsfachkräfteübernimmt oder durch sein Handeln zumindest teilweise in die Firmenverantwortungeingreift. Hier liegt eine Fehlentwicklung vor: Die Konzentration allein auf gewerkinterne, firmenbezogene Mängel lenkt von der eigentlichen Aufgabedes Koordinierens, d. h. des Betrachtens gewerkeübergreifender und gemeinsamer Gefährdungen, ab. Ein Beispiel: Es ist nicht die Aufgabe des Koordinators, das Tragen von Schutzhelmen zu kontrollieren, sondern dafür Sorge zu tragen, dass Teile erst gar nicht herabfallen oder niemand durch herabfallende Teile gefährdet werden kann.
Der Grat zwischen reiner Koordinatoren-Tätigkeit und manchmal – notgedrungenerweise – durchzuführender Kontrolltätigkeiten als Folge von Defiziten an anderer Stelle ist schmal. In jedem Fall wird durch ein aktives Engagement für den Arbeitsschutz sensibilisiert. Und das hilft sicher, um Unfälle zu vermeiden.
Die Koordinatoren werden während der Abwicklung eines Bauvorhabens, also in der Ausführungsphase, noch am meisten wahrgenommen. Nach wie vor (auch nach 20 Jahren) findet das nach Baustellenverordnung geforderte Wirken in der Planung der Ausführung größtenteils nicht und selbst bei verantwortungsbewussten Bauherren oftmals nur unzulänglich statt. Das ist eine weitere Fehlentwicklung, die man konstatieren muss. Mangels praktischer Erfahrungen wissen oftmals Bauherren – wie auch manche Koordinatoren – die Planungsphase nicht im Sinn der Verordnung klug mit Leben zu füllen. Das ist sehr schade und grundsätzlich zu bedauern, da hier nach wie vor die entscheidenden Hebel umgelegt werden können für eine deutlich sicherere Ausführung des Bauvorhabens. Die bereits vor 20 Jahren genannten Ziele und Vorteile, z. B. die nachweislich vorhandenen Synergie-Effekte zwischen Arbeitsschutz und Wirtschaftlichkeit, sind nach wie vor aktuell.
Der Blick nach vorne vermeidet Fehler
Das Wirkungsfeld für Koordinatoren ist schwierig. Bauherren beauftragen sie in der Regel deutlich zu spät, meist erst mit Beginn der Ausführung, und die Unternehmer/ Arbeitgeber kommen ihren gesetzlichen Verpflichtungen im Arbeitsschutz nicht oder nur unzureichend nach. Erschwerend kommt hinzu, dass gut ausgebildetes Fachpersonal auf Baustellen kaum noch zu finden ist. Die weitaus größte Zahl der auf Baustellen Beschäftigten kommt aus Kulturkreisen, in denen die Arbeitssicherheit bzw. das Vermeiden von Unfällen nicht an der Spitze der staatlichen Ziele steht.
Zu lamentieren und sich ob dieser widrigen Umstände zu beklagen, bringt niemanden weiter. Eher sollte das eigene Schicksal in die Hand genommen und innerhalb des gesteckten Rahmens weiterhin intelligent dem präventiven Gedanken im Arbeitsschutz gefolgt werden, um mit dieser Arbeit Sinnvolles zu bewirken.
Stichwort Prävention: Leider wird auf Koordinatoren-Seite, wie aber auch in der Erwartungshaltung von Bauherren und Aufsichtspersonen, der Schwerpunkt zu sehr auf die reine Fehlerkontrolle auf der Baustelle gelegt. Wir schauen immer „rückwärts“ und stellen fest, was in den vergangenen Tagen alles schief gelaufen ist. Wir dokumentieren Mängel und hoffen, dass sie zeitnah abgestellt werden.
Viel wichtiger ist doch auch in der Ausführungsphase der Blick nach vorne: nämlich zu erkennen, was morgen nicht in Ordnung sein könnte. Fehler, die letztendlich zwar noch beseitigt, aber rückwirkend nicht ungeschehen gemacht werden können, sollten sich nicht bei der nächsten vergleichbaren Arbeit wiederholen! Wir werden aufgrund unserer Garantenstellung als Personen mit einer gewissen Qualifikation im Arbeitsschutz nicht umhin können, auffallende Mängel anzusprechen; der Blick sollte bei unserer Arbeit auf der Baustelle gleichwohl immer in die Zukunft gerichtet sein. Dazu ist es wichtig, Zusammenhänge zu erkennen und den gesamten Bauablauf im Blick zu haben und sich nicht in der Aufzählung von Einzel-Mängeln zu verlieren.
Radikale Gesetzesanpassungen werfen nur neue Probleme auf
In der RAB 30 steht als eines der „weichen“ Qualifikationskriterien für einen geeigneten Koordinator, dass man bereit sein soll, sich aktiv einzubringen. Aktiv zu koordinieren, heißt nicht, stumpf Gefährdungsbeurteilungen der Firmen abzufordern, sondern diegegenseitigen Gefährdungen im Vorfeld zu erkennen und noch rechtzeitig Maßnahmen anzuregen, um das Sicherheitsniveau auf der Baustelle signifikant zu steigern.
Wenn der Sicherheits- und Gesundheitsschutzplan schon nicht das wegweisende Dokument ist, in dem zu allen Gefährdungen Lösungen aufgeführt sind, die sich in Ausschreibungen und Bauverträgen wiederfinden,dann sollten zumindest Begehungsund Besprechungsprotokolle Hinweise enthalten, zu durchgeführten Beratungen und Abstimmungen und damit zur sicheren Ausführung der kommenden Arbeiten.
Mit einem solchen proaktiven Handeln lässt sich sehr gut vieles im Sinne der Baustellen- Verordnung bewirken, ohne dass nach dem Gesetzgeber gerufen werden müsste, dieser möge das Vorhandensein eines SiGe-Plans zur Voraussetzung für eine Baugenehmigung machen oder aber den Koordinator mit einer Weisungsbefugnis ausstatten. Ich persönlich halte von solchen radikalen Gesetzesanpassungen nichts, zumal sie neue, teilweise auch rechtliche Probleme aufwerfen und vermutlich immer noch nicht das gesteckte Ziel erreichen würden.
Es wäre schon ein guter Anfang, das regelgerecht umzusetzen, was in den bestehenden Verordnungen und Vorschriftenfestgelegt ist. Hier geht der Appell nicht nur an die Koordinatoren, sondern auch an die Vertreter der Aufsichtsbehörden: Lösen Sie sich bei den Baustellen-Rundgängen von dem bloßen Feststellen vorhandener Arbeitsschutz- Mängel und kommen Sie dem uftrag nach, die ausführenden Firmen zu beraten und dort die Erfüllung der Arbeitgeber-/ Unternehmer-Pflichten nachhaltiger einzufordern!
Gerade die Aufsichtspersonen der staatlichen Arbeitsschutzverwaltung hätten m. E. einige Stellschrauben in der Hand, im Zweifelsfallauf Bauherren einzuwirken (beispielsweise bei nachweislich zu später Beauftragung)und gleichermaßen auch die Arbeit von uns Koordinatoren kritisch zu bewerten (wenn z. B. auffällt, dass die Koordinatoren- Leistung nur theoretisch stattfindet, d. h. nicht wirksam oder sogar gar nicht wahrnehmbar ist).
Fazit
Das Ziel ist ausdrücklich nicht die Konfrontation zwischen Koordinatoren und Aufsichtspersonen. Ganz im Gegenteil: Koordinatoren sind auch immer als (ideeller) Teil der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie GDA zu betrachten. Ich persönlich bin ein Verfechter davon, dass alle im Arbeitsschutz Engagierten als Team zusammenarbeiten müssen, um etwas zu bewegen.
Aus diesem Grund vertrete ich die Auffassung, dass die Baustellenverordnung selbst nicht verändert werden muss. Das wäre auch im europäischen Kontext nur schwerlich möglich. Worüber aber ernsthaft nachgedacht werden sollte, ist die Überarbeitung der Regelnzum Arbeitsschutz auf Baustellen (RAB). Hier könnten und sollten die Erfahrungen der vergangenen 20 Jahre genutzt werden, um die den Verordnungstext konkretisierenden Regeln zu aktualisieren. Es gilt, sie so zu modifizieren, dass bekannten Fehlentwicklungen entgegengewirkt und auf kritische bzw. falsch interpretierte Punkte ein deutlicherer Fokus gelegt wird. Die Kammer- und Verbandsvertreter (allen voran das Präsidium des Bundeskoordinatorentags) haben dazu in der Vergangenheit schon häufiger ihre konstruktive Mitarbeit angeboten.
Die Werkzeuge der Baustellenverordnung sind im Zusammenspiel mit allen anderen Arbeitsschutz-Vorschriften ein gutes und auch sinnvolles Mittel, um das Arbeitsschutz-Niveau auf Baustellen signifikant und nachhaltig zu steigern. Voraussetzung für diese These ist allerdings, dass alle Beteiligten und damit die Normadressaten ihren Verpflichtungen im Arbeitsschutz deutlich mehr und vor allem im Sinne der Regularien nachkommen. Darauf sollten wir alle hinwirken.