Sektorenkopplung in Nordfriesland

Power-to-X-Projekt Bosbüll: Wind, Wärme, Wasserstoff

Deutsches Ingenieurblatt 04/2022

Die Sektorenkopplung gilt als wichtiges Instrument der gesamtenergetischen Transformation. Speziell in der thermischen Gebäudeversorgung, bei der fossile Energieträger aktuell noch immer eine dominierende Rolle spielen, erweisen sich regenerative Vernetzungsstrategien als zielführender, zukunftsfähiger Gegenentwurf auf dem Weg zur CO2-Neutralität. Die konzeptionellen und technologischen Voraussetzungen für eine effiziente Zusammenführung von Strom, Wärme und Verkehr sind anspruchsvoll – aber machbar. Das nordfriesische Leuchtturmprojekt von Bosbüll gibt hierfür ein Beispiel.

 

Noch vor wenigen Jahren gehörte die kleine, eigenständige Gemeinde Bosbüll unweit der dänischen Grenze zu den unbekannteren Flecken auf der norddeutschen Landkarte. Dann entwickelte sich ein breites mediales Interesse rund um das 250-Einwohner-Örtchen und seine landschaftliche Peripherie – namhafte Wirtschaftsvertreter waren ebenso zu Gast wie bekannte Größen aus der Politik; auch die ersten Auszeichnungen nahm man in Bosbüll unter öffentlicher Aufmerksamkeit in Empfang. Der Grund: In der windhöfigen Küstenregion hatte ein Team aus Planern, Projektierern und Anlagenentwicklern eine Blaupause geschaffen, die zeigt, wie eine regional-regenerative Energieversorgung nach dem Verknüpfungsprinzip funktioniert und die Energiewende mit einem progressiven Power-to-X-Konzept vor der eigenen Haustür vollzogen werden kann.

Neu gefordert statt ausgefördert: Zukunftsperspektiven für Wind und Solar
Die Ausgangslage, die zur Prüfung und anschließenden Umsetzung des Sektorenkopplungsprojekts führte, wurde parallel von mehreren ökologischen und ökonomischen Faktoren bestimmt: Neben dem Ziel der Klimaneutralität im Gebäudewesen stand auch die Frage nach Optionen für einen weiterhin wirtschaftlichen Betrieb der örtlichen Windenergie- und Solarparks sowie für den zusätzlichen Ausbau einer fossil-unabhängigen lokalen Energieversorgung im Raum. Bereits Ende vergangenen Jahrs sind zwei der lokalen Bügerwind-Energieanlagen als erste mit Ü20-Status aus der EEG-Vergütung gefallen; für weitere Anlagen wird die gesetzliche Förderung in den kommenden Jahren auslaufen. Davon betroffen ist bis Ende des Jahrzehnts auch der Betrieb des Freiflächensolarparks vor Ort.

Wie derzeit viele Betreiber stand damit auch die Windpark Bosbüll GmbH vor den Herausforderungen einer zukünftig rentablen Anlagenführung jenseits des EEG-Unterstützungszeitraums. Ein innovativer Ansatz für Betreiber, Bürger und Umwelt entstand im Planungsbüro des Projektentwicklers GP Joule GmbH. Die Experten für ganzheitliche regenerative Energie-Lösungen konzeptionierten eine effizienzoptimierte lokale Kopplung von Stromerzeugung, Wärmebereitstellung und Kraftstoffproduktion und entwarfen gemeinsam mit ihren Projektpartnern die für die Versorgung erforderliche energetische Infrastruktur. Heute verfügt die Gemeinde Bosbüll über ein neues, 2,7 Kilometer langes, Bafa-gefördertes 4.0-Wärmenetz, an das aktuell 25 Haushalte mit einem Gesamtleistungsbedarf von rund 500 MWhth sowie ein Tierhaltungsbetrieb mit rund 600 MWhth Wärmeabnahme angeschlossen sind. Die Integration weiterer privater und gewerblicher Anschlussnehmer ist in Planung.

Kostengünstige Wärmeproduktion ersetzt kostenintensive Ausfallarbeit
Realisiert wird die nachhaltige, lokal verankerte Wärmebereitstellung über ein erprobtes, effektives Power-to-Heat-Verfahren. Dieses nutzt temporäre Überschuss-Erträge aus der Wind- und Solarenergie-Produktion und setzt diese zur Erzeugung von umweltfreundlicher Wärme ein. Ökologisch sinnvoll und wirtschaftlich attraktiv werden solche Prozesse besonders dann, wenn eine Einspeisung des regenerativen Stroms aufgrund drohender Netzüberlastung abgeregelt werden muss. Aus diesem Grund erfolgt die Transformation von Strom zu Wärme bevorzugt während des sogenannten Einspeisemanagements (Einsman-Schaltung) des Netzbetreibers. Im vergangenen Jahr lag die durch Zwangsabregelung generierte Ausfallarbeit der regenerativen Stromerzeuger in Deutschland bei 6,1 TWhel – ein enormes energetisches Potenzial, das einen zentralen Beitrag zur Dekarbonisierung des Gebäude- und Verkehrssektors beitragen kann.

In Bosbüll liefert der vor Ort erzeugte grüne Strom die Antriebsenergie für drei vorlaufgeregelte Luft-Wasser-Wärmepumpen, die mit einer Leistung von insgesamt 240 kW Wärme generieren. Als Redundanz- bzw. Spitzenlast-System dient neben einem Gasheizkessel ein 750 kW-Elektroheizstab, der aus der erneuerbaren elektrischen Energie thermische Energie produziert und damit das Wasser eines 14 Meter hohen und 84 m3 fassenden Pufferspeichers erwärmt.

Komplementäres Power-to-Gas-Verfahren liefert Kraftstoff und Wärme
Einen weiteren Baustein der regenerativen Wärmeversorgung aus grünem Strom – und zugleich die zweite Säule der Sektorenkopplung – liefert das sogenannte „eFarm“-System. Das hier umgesetzte Power-to-Gas-Verfahren basiert auf dem Einsatz von insgesamt fünf PEM-Elektrolyseuren in der Region, die den vor Ort erzeugten Wind- und Solarstrom mit einer Gesamtleistung von 1,125 MW in Wasserstoff umwandeln. Dies geschieht, indem Wasser mithilfe elektrischen Stroms in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt wird. Der produzierte Wasserstoff wird an zwei Wasserstoff-Tankstellen in Husum und Niebüll transportiert, wo eine Verdichtungsanlage den Treibstoff auf die gängigen Betankungsdrücke 350 bar und 700 bar bringt.

Aktuell werden mit dem CO2-freien Kraftstoff zwei speziell dafür vorgesehene Brennstoffzellen-Busse des öffentlichen Personennahverkehrs sowie 30 Brennstoffzellen-PKW betrieben, deren Anteil sich perspektivisch noch erhöhen wird: Nach aktuellem Stand bietet das System weitere Kapazitäten für insgesamt mehr als 100 Fahrzeuge. Allein die zwei Wasserstoff-Produktionsanlagen in Bosbüll stellen täglich etwa 200 kg Wasserstoff her; die dabei anfallende Abwärme (100 MWhth) kann wiederum effizient durch Einbindung in die örtliche Wärmeversorgung (Netz- und/oder Speichereinspeisung) genutzt werden. Auf diese Weise erzielen die Systeme einen Wirkungsgrad von 95 %. eFarm ist damit das bisher größte nachhaltige Wasserstoff-Mobilitätsprojekt, das den Gesamtprozess von der Grunderzeugung (Power-to-Gas) über die Weiterverarbeitung (Power-to-Fuel) bis hin zum Antriebseinsatz abdeckt und dafür auch die erforderliche Infrastruktur bereithält.

Anlagentechnologie und Steuerungssysteme für effizienten Netzbetrieb
Um das hohe Effizienzpotenzial eines intelligenten Sektorenkopplungskonzepts vollumfänglich ausschöpfen zu können, ist neben den Erzeugungsverfahren von grüner Wärme auch die Qualität aller nachgelagerten Prozessschritte von der Speicherung über die Verteilung bis zur Übergabe und Bedarfsregelung entscheidend. Die Yados GmbH aus Hoyerswerda hat die Aufgabe der aufeinander abgestimmten Systemintegration aller Komponenten in den gekoppelten Sektoren übernommen. Über ein gemeinsames Leit- und Kommunikationssystem des selben Entwicklers werden diese miteinander vernetzt, ihr Betrieb wird lückenlos und in Echtzeit überwacht und nach vordefinierten oder situativen Erfordernissen angepasst. MSR-Systeme der neuesten Generation gelten als Stellschraube für eine Effizienzverbesserung in der Energieversorgung. Da sich Abweichungen oder Störungen innerhalb der laufenden Prozesse unmittelbar erkennen und beheben lassen, ist die angestrebte optimale Anlagenfahrweise gut realisierbar. Die so zu erzielende Verbrauchsreduktion von Primärenergie liegt bei durchschnittlich acht bis zehn Prozent; in energieintensiven Umgebungen sind Einsparungen von bis zu 30 Prozent möglich.

Auch der Datenaustausch zwischen den Windenergieanlagen und der Wasserstoffproduktion wird koordiniert: Das MSR-System sendet Wärmebedarfsmeldung an die Elektrolyseure und regelt die Leistung der Zubringer-Pumpen.

Ausgangspunkt der Wärmenetzführung ist eine von dem Wärmenetz-Spezialisten entworfene und gefertigte Energiezentrale, die einen Gasheizkessel zur Spitzenlastabdeckung, eine Notheizung und eine Hydraulikstation (Wärmeverteiler) beinhaltet. Speziell die Hydraulik hat einen signifikanten Einfluss auf den Effizienzgrad des Gesamtenergiesystems. Ist diese gestört, können die Erzeuger nicht unter Optimalbedingungen arbeiten und die erzeugten oder gewonnenen Wärmekapazitäten lassen sich nicht effizient vorhalten. Die Hydraulikstation hat deshalb die Funktion, die Energieerzeugungs-, Speicher- und Verteilprozesse auszubalancieren, eine optimale Temperaturschichtung in der Speicheranlage mit möglichst geringer Vermischung zu realisieren und eine bedarfspräzisierte Versorgung der Verbraucherseite zu gewährleisten.

Die Gebäudeheizungsanlagen der Verbraucherseite sind durch Wärmeübergabestationen der Wärmenetz-Experten mit dem Wärmenetz verbunden. Je nach Abfrage werden Druck sowie Temperatur des Mediums reguliert und hydraulisch getrennt durch einen Plattenübertrager in den Heizkreislauf des Kunden eingespeist. Eine DDC-Regelung berechnet dabei die erforderlichen Vorlauftemperaturen unter Einbezug aller relevanten – externen und individuell definierten – Parameter.

Aktuell lässt sich der Fernwärmenetzbetrieb auf einem Temperaturniveau von 70 bis 85 °C im Vorlauf und 50-55 °C im Rücklauf führen. Zusätzliche Anpassungen der kundenseitigen Heizsysteme sind in Planung, um zukünftig ein stabil niedriges Temperaturniveau zu jeder Jahreszeit realisieren zu können und die Netzeffizienz zu optimieren.

Fazit
Für die Dekarbonisierung insbesondere der Wärmeversorgung spielt die Sektorenkopplung eine zentrale Rolle. Der Einsatz von regenerativem Strom kann in erheblichem Umfang zur Substitution von fossilen Energieträgern beitragen – allein in der Gemeinde Bosbüll liegt die Einsparung von Heizöl durch die Umsetzung des Power-to Heat-Konzepts bei 180.000 Litern jährlich. Lokale Energiebezugslösungen haben darüber hinaus immer auch den Vorteil einer weitgehenden Marktunabhängigkeit – dies betrifft in besonderem Maß die Versorgungssicherheit und den Schutz vor Preisvolatilität.

Entscheidend für die Gesamteffizienz gekoppelter regenerativer Erzeugungssysteme ist die Qualität der gesamten Anlagentechnologie und ihre Steuerung. Lässt sich eine nachhaltige Produktion, Erschließung und Nutzung elektrischer und thermischer Energie mit intelligenten Speicher- und Verteilkonzepten verbinden, können neue lokale Lösungen die Energiewende effektiv und zügig voranbringen.

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