Unternehmensstrategien mit neuen Szenarien entwickeln

Corona: Eine Gleichung mit vielen Variablen

Deutsches Ingenieurblatt 06/2020
Management

Beim Entwickeln von Strategien für die Zeit nach der Corona-Pandemie können Unternehmen aktuell eigentlich nur auf Szenarien bauen. Dabei stoßen selbst erfahrene Strategieentwickler auf ungekannte Schwierigkeiten, denn: Über die Rahmenbedingungen nach der Krise kann man zurzeit nur spekulieren.

Wenn Unternehmen Strategien entwickeln, fließen in diese stets Annahmen ein– zum Beispiel darüber, wie sich der Markt oder die Technik entwickelt, denn: Strategien nehmen die Zukunft, die noch nicht Gegenwart ist, gedanklich vorweg.
Eine in der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gängige Methode zum Entwickeln der den Strategien zugrundeliegenden Prognosen und zur strategischen Planung ist die Szenariotechnik. Ihr Ziel ist es, mögliche künftige Entwicklungen gedanklich vorwegzunehmen, zu analysieren und unter Berücksichtigung der Wechselwirklungen zwischen den Einflussfaktoren möglichst zusammenhängend so zu beschreiben und darzustellen, dass hieraus zunächst

  • Ziele, dann
  • Handlungsstrategien und hieraus wiederum
  • Maßnahmen abgeleitet werden können.

Entscheidungsfindung mit Szenarien: „live“ erlebbar

Wie die strategische Entscheidungsfindung und das Planen mit Szenarien funktionieren, konnten seit Anfang März alle Bürger in den allabendlichen Corona-Talkrunden im Fernsehen live miterleben. Zu Beginn der Krise spekulierten die anwesenden Politiker und Wissenschaftler noch darüber, ob das Corona-Virus überhaupt eine Pandemie auslöst. Und als feststand: „Es ist bzw. wird eine Pandemie.“, begannen sie, darüber zu spekulieren:

  • Wie lebensbedrohlich ist eine Erkrankung mit dem Virus,
  • welche Ziele verfolgen wir bei dessen Bekämpfung,
  • welche Priorität räumen wir ihnen ein und
  • was sind sinnvolle bzw. angemessene Maßnahmen, um die Ziele zu erreichen?

Dabei war es für interessierte Beobachter teils spannend, teils frustrierend, zu beobachten, wie manch vermutlich zielführende Maßnahme aufgrund der Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel, dass die benötigte Schutzkleidung fehlte, nicht realisiert werden konnte. Also wurde nach einem Plan B bzw. alternativen Wegen gesucht, um solche angestrebten Zwischenziele wie „Unser Gesundheitssystem soll nicht überlastet werden!“ zu erreichen.
Daran hat sich bis heute wenig geändert, da wir

  • kaum Erfahrung mit Pandemien haben,
  • noch immer zu wenig über das „neuartige Corona-Virus“ wissen und
  • uns zu dessen nachhaltiger Bekämpfung der benötigte Impfstoff fehlt.

Also muss sich die Politik bei ihren Entscheidungen immer noch auf viele Annahmen und den Rat von Experten wie Virologen stützen.

Auch die Experten sind am Spekulieren

Dabei zeigte die Corona-Diskussion: Auch die Experten sind, wenn sie vor einem neuen, komplexen Problem stehen, mit dessen Ursache und Bekämpfung es noch wenig Erfahrung gibt, sehr unterschiedlicher Meinung.
So waren anfangs einige Experten der Auffassung, das Corona-Virus sei nicht gefährlicher als eine normale Grippe und spätestens, wenn es im Sommer warm werde, sei der Spuk vorüber.
Entsprechend „konservativ“ oder „lasch“ waren die von ihnen geforderten Gegenmaßnahmen. Andere Experten waren überzeugt: Das Corona-Virus ist extrem gefährlich, ja lebensgefährlich. Es wird sich zudem exponentiell verbreiten und wenn wir keine radikalen Gegenmaßnahmen ergreifen, wird es allein in Europa Millionen Tote geben.
Und zwischen diesen Vertretern des sogenannten „Best Case“ und „Worst Case“ saßen die eigentlichen Entscheider, die Politiker, die letztlich entscheiden mussten:

  • Wie gefährlich schätzen wir das Virus ein,
  • welchen Zielen räumen wir welche Priorität ein,
  • wie können wir diese aufgrund der bestehenden Rahmenbedingungen wie der Verfassung unseres Gesundheitssystems und unserer Wirtschaft am ehesten und mit den geringsten Kollateralschäden erreichen und
  • welche Maßnahmen ergreifen wir folglich?

Und all dies musste sozusagen im Zeitraffer geschehen, während noch Hunderttausende von Pauschal- und Individualtouristen auf einen Rückflug aus der ganzen Welt warteten.

Entscheider haben wenig Fakten beim Entscheiden

Vermutlich haben unsere Spitzen-Politiker aufgrund des Handlungsdrucks in den vergangenen Monaten bzw. Wochen mehr weitreichende Entscheidungen getroffen und Maßnahmen entschieden, als sonst in mehreren Legislaturperioden. Danke hierfür! Dass unter diesen Rahmenbedingungen nicht jede Entscheidung bis in die letzte Verästelung durchdacht und jede Maßnahme bis ins kleinste Detail geplant sein konnte, ist klar. Entsprechend kleinlich bzw. die Ist-Situation verkennend wirkte oft die Kritik mancher Vertreter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Interessensgruppen sowie Oppositionspolitiker.
Doch nicht nur bei der Entscheidungsfindung in der Politik, auch in der Wirtschaft und in den Unternehmen spielt die Szenario-Technik eine wichtige Rolle. So auch bei der Corona-Krise. Eher gering war deren Bedeutung noch in der Anfangsphase. Denn nach dem Ausbruch der Pandemie in Deutschland Anfang März und dem von der Regierung am 23. März beschlossenen Lockdown wurde das Corona-Virus auch für viele Betriebe existenzgefährdend und die Top-Entscheider mussten zunächst ratz-fatz die erforderlichen Akutmaßnahmen ergreifen, um zum Beispiel die Liquidität ihrer Unternehmen zu sichern. Doch nachdem dies geschehen war, wendete sich ihr Augenmerk zunehmend der Frage zu: Was können oder sollten wir tun, um die Existenz unseres Unternehmens mittel- und langfristig zu sichern und aus der Krise eventuell sogar gestärkt hervorzugehen?

Die Corona-Folgen für die Unternehmen divergieren

Recht einfach ließ sich diese Frage bezogen auf die vielen Kleinunternehmen wie Gastronomiebetriebe und Friseursalons beantworten, deren Markt primär ein lokaler ist: Wenig!
Bei ihnen lautete die Kernfrage: Haben sie die finanziellen Ressourcen, um die Krise zu überstehen?
Wenn nein, sind sie spätestens pleite, wenn die Soforthilfen der Bundesregierung aufgebraucht sind. Und wenn ja? Dann werden sie, sobald erlaubt, ihre Tore wieder öffnen und weitgehend ein „business as usual“ betreiben. Dessen ungeachtet stellen sich jedoch bezüglich ihres Fortbestands Fragen wie:

  • Werden die Bundesbürger nach der Krise noch ihre Bekleidung usw. weitgehend im stationären Handel kaufen oder wird der Online-Handel einen nachhaltigen Push erfahren?
  • Werden die (Fast-Food-)Restaurant-Ketten nach der Krise einen Großangriff starten, um in dem atomisierten Markt einen größeren Marktanteil zu gewinnen?

Komplexer stellt sich die Situation bei den meisten größeren Unternehmen dar, deren Markt ein nationaler, multinationaler oder gar globaler ist. In ihnen sehen sich sogar erfahrene Entscheider beim Versuch, die Frage „Wie geht‘s weiter?“ zu beantworten, mit ihnen bisher unbekannten Schwierigkeiten konfrontiert, denn:

  • Einerseits sind der weitere Verlauf der Corona-Krise und ihre Folgen weltweit noch nicht abschätzbar, doch
  • andererseits ist heute schon klar: Krisenbedingt verändern sich die Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Handelns für die meisten Unternehmen so stark, dass sie ihre bisherigen Strategien grundsätzlich überdenken müssen.

Die Entscheider müssen die Krise erst „begreifen“

Wie vielschichtig und komplex der Change oder Transformationsprozess im Gefolge der Krise ist bzw. sein wird, wird den Entscheidern meist erst bewusst, wenn sie die Ist-Situation reflektieren. So ist zum Beispiel zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehbar:

  • Wie wirkt sich die Krise auf die Staatengemeinschaft aus? Wird sie zum Beispiel die EU zusammenschweißen oder bleibt diese nur noch auf dem Papier bestehen?
  • Wie wirkt sich die Krise auf die Nationalökonomien aus? Enthalten sie nach der Krise mehr planwirtschaftliche Elemente und erhöhen die Staaten die Handelsbarrieren?
  • Entwickeln sich noch mehr Schwellen- und Entwicklungsländer zu „failed states“ und brechen die Lieferketten für bestimmte Rohstoffe nachhaltig zusammen?
  • Löst die Krise in vielen Branchen einen Übernahme- und Konzentrationsprozess aus?
  • Wie stark und in welcher Form wird die Krise die digitale Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft und den Online-Handel pushen?

Ähnliche Fragen stellen sich auf der mikroökonomischen Ebene – zum Beispiel:

  • Werden die Mitarbeiter, die zurzeit im Homeoffice arbeiten, nach der Krise noch akzeptieren, dass sie fortan wieder täglich im Büro sein müssen?
  • Verändert die Tatsache, dass in der Krise und der darauf folgenden Wiederaufbauphase sehr viele Entscheidungen top-down getroffen werden müssen, nachhaltig die Unternehmenskulturen?
  • Wie entwickeln sich die Kauflaune bzw. Investitionsbereitschaft sowie Zahlungsmoral der Kunden nach der Krise, wenn ihre Kassen vermutlich weitgehend leer sind?

Bei der Strategieentwicklung „agil“ bleiben

Fragen über Fragen, auf die man eigentlich eine Antwort bräuchte, wenn man eine Strategie für die Zeit nach der Krise entwerfen möchte. Doch anders als bei der Strategieentwicklung in normalen Zeiten können sich die Unternehmensführer aktuell bei ihrer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung auf

  • sehr wenig belastbare Daten, die ihnen zum Beispiel ihr Controlling liefert, und
  • nachhaltige Trends, die ihnen die Marktforschungsunternehmen prognostizieren, stützen.

Sie können letztlich nur Hypothesen formulieren und hierauf aufbauende Szenarien entwerfen. Dies tun die Entscheider in den Unternehmen auch, denn es ist und bleibt ihre Aufgabe, in ihren Organisationen die Weichen jetzt für die Zeit nach der Krise in Richtung Erfolg zu stellen.
Hierbei können sie, um zwei Termini aus dem agilen Projektmanagement zu gebrauchen, letztlich nur iterativ und inkrementell agieren. Das heißt, sie können aufgrund ihres jeweils aktuellen Wissensstands stets nur vorläufige Strategien und hierauf aufbauende Maßnahmenpläne entwickeln, um dann regelmäßig zu überprüfen: Waren die Annahmen, die ihnen zugrunde lagen, richtig oder müssen wir unsere Strategie modifizieren?

Vom Best und Worst Case zum Trend Case

Beim Entwickeln der Strategie gehen die Entscheider in der Wirtschaft ähnlich wie die Politik vor: Sie entwerfen aufgrund der validen sowie als weitgehend gesichert geltenden Daten und Annahmen, wie sich die Zukunft gestalten könnte, unterschiedliche Szenarien, also Zukunftsbilder. Hierzu zählt der sogenannte „Worst Case“ – also das Zukunftsbild, das entsteht, wenn aus Sicht des Unternehmens alles negativ läuft. Annahmen, die dem Worst Case eines Unternehmens aktuell zugrundeliegen können, sind:

  • Die Corona-Krise wird über viele Jahre das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben bestimmen, weil das Virus mutiert und kein Impfstoff dagegen gefunden wird.
  • Ein großer Teil unserer (Ziel-)Kunden und viele Staaten werden zahlungsunfähig werden und entsprechend gering werden ihre Investitionsfähigkeit und -bereitschaft sein.
  • Unsere Lieferketten für die Rohstoffe bzw. Teile x und y brechen nachhaltig zusammen und entsprechend eingeschränkt ist unsere Leistungsfähigkeit.
  • ……………………………………………

Sozusagen das positive Gegenbild zum „Worst Case“ ist der „Best Case“. Er beschreibt das Zukunftsbild, wenn aus Unternehmenssicht alles optimal verläuft. Annahmen, die dem Best Case zugrundeliegen, können sein:

  • Es gelingt bis Frühjahr 2021, einen Impfstoff zu entwickeln und in großen Mengen industriell zu fertigen. Deshalb ist der „Corona-Spuk“ spätestens dann für uns vorbei.
  • Die Kaufkraft unserer Zielkunden wird durch die Krise nicht sinken und ihre Nachfrage nach unseren Produkten oder Leistungen wird steigen. Zudem werden die Förderprogramme vieler Staaten unseren Absatz pushen.
  • Die Preise für die von uns benötigten Rohstoffe/Teile werden nachhaltig sinken. Deshalb können wir günstiger produzieren.

Das Entwickeln des Best Case und Worst Case dient auch dazu, den Horizont der Entscheider für den „Möglichkeitsraum“, also für die Fragen:

  • „Was könnten mögliche Konsequenzen der Corona-Pandemie sein?“ und
  • „Welche Einflussfaktoren gilt es zu beachten?“ zu erweitern.

Hierauf aufbauend tasten die Entscheider sich dann an die Entwicklung des sogenannten „Trend Case“ heran, der beschreibt, was aus Unternehmenssicht das realistischste Szenario, also Zukunftsbild, ist, das der weiteren Strategie- und Maßnahmenplanung des Unternehmens zugrundegelegt werden sollte.

Der übliche Szenario-Trichter gilt nicht mehr

Bei der Szenario- und Strategieentwicklung haben die Entscheider jedoch ein Problem. Normalerweise gilt hierbei die Faustregel: Je länger der gültige Zeitraum für die entwickelte Strategie ist, umso unwahrscheinlicher wird es im Zeitverlauf, dass die Rahmenbedingungen, die der Entwicklung der Szenarien zugrunde gelegt wurden, noch gelten und die prognostizierten Trends noch anhalten. Das heißt, während die eher kurzfristigen Szenarien noch mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die Realität abbilden, steigt mit zunehmender Dauer die Wahrscheinlichkeit einer Abweichung, sodass ein positives Extremszenario (Best Case) oder negatives Extremszenario (Worst Case) Realität wird. Der sogenannte „Szenario-Trichter“ öffnet sich immer weiter.
Anders ist dies in der aktuellen Krisensituation. In ihr ist die Trichteröffnung zum Zeitpunkt der Szenarioerstellung und hierauf aufbauenden Strategieentwicklung nicht sehr klein, sondern groß – und die Annahmen, die den Entscheidungen zugrundeliegen, sind hochspekulativ.
Letztlich leben zurzeit alle Entscheider in der Hoffnung, dass sich in den kommenden Monaten der „Möglichkeitsraum“ verkleinert und sich die Fragen

  • „Wie geht weiter?“ und
  • „Auf welche Eckdaten können wir bei unseren strategischen Planungen bauen?“

zunehmend klären und sich aufgrund des verbesserten Wissensstands zum Beispiel ein großer Teil der obigen Fragen mit einer relativen Sicherheit beantworten lässt. Auch deshalb können die Entscheider in den Unternehmen bei der Strategieentwicklung und Maßnahmenplanung zurzeit nur agil agieren. Sie können sozusagen solange nur auf Sicht fahren, bis der Nebel sich verzogen oder zumindest gelichtet hat.
Bei der Strategieentwicklung mit der Szenariotechnik werden in der Regel mehrere Phasen unterschieden. Die typischen seien nachfolgend kurz beschrieben.

Die 6 Schritte der Strategiewicklung mit Szenarien

Schritt 1: Aufgaben-/Problemanalyse, Zieldefinition

Im ersten Schritt werden der Untersuchungsgegenstand beschrieben sowie ein vorläufiges Ziel der Strategiearbeit definiert. Also zum Beispiel: „Wir wollen eine Strategie formulieren, wie unser Büro gestärkt aus der Krise hervorgeht und langfristig erfolgreich in seinem Markt agiert.“ Danach wird konkretisiert, was die Vokabeln „gestärkt“, „langfristig“ und „erfolgreich“ heißen. Anschließend werden die Faktoren ermittelt, die z. B. den Markt des Unternehmens und dessen Erfolg beeinflussen.
Das Ergebnis dieser Phase sind eine konkrete Aufgaben- und Zielbeschreibung sowie eine Auflistung der Einflussfaktoren.

Schritt 2: Analyse der Einflussfaktoren und ihren Wechselwirkungen

Nun wird untersucht, wie die Einflussfaktoren zusammenhängen und sich wechselseitig beeinflussen. Dies kann in Form einer Vernetzungstabelle geschehen. In ihr werden die Einflussfaktoren einander gegenübergestellt.
Danach wird analysiert, welchen Einfluss die einzelnen Faktoren aufeinander haben (keine, mittlere oder hohe Wirkung) – zum Beispiel: Wie wirkt sich eine erschwerte Beschaffung aufgrund höherer Handelsbarrieren auf unsere Produktivität und unsere Preise und diese wiederum auf unseren Umsatz und Gewinn aus? Danach werden die Einflussfaktoren gemäß ihrer Relevanz für das Erreichen des übergeordneten Ziels gerankt.
Das Ergebnis dieser Phase ist eine Übersicht über die Einflussfaktoren und ihren Wechselwirkungen sowie ihre Relevanz für das Erreichen der Unternehmensziele. Dies verhindert, dass wichtige Einflussfaktoren vergessen werden.
Zudem ermöglicht es, sich bei der weiteren Strategiearbeit auf die relevantesten Einflussfaktoren zu fokussieren. Dies beugt gerade in so diffusen Situationen wie der aktuellen einem Sich-Verzetteln vor.

Schritt 3: Ermittlung möglicher Szenarien

Diese Aufgabe wird momentan dadurch erschwert, dass in der aktuellen Situation vieles im Bereich des Möglichen liegt, was vor der Krise unmöglich schien. So zum Beispiel, dass Staaten aufgrund der „Systemrelevanz“ gewisser Güter einen generellen Import-Stopp von diesen beschließen und diese künftig selbst produzieren. Oder dass ganze Märkte für Jahre zusammenbrechen. Oder dass der Nachschub bestimmter Rohstoffe kollabiert.
Deshalb können sehr viele Trends aus der Vor-Krisen-Zeit nicht fortgeschrieben werden. Und das Datenmaterial ist über Nacht veraltet.
Dessen ungeachtet ist es und bleibt es ein zentrales Element der Szenarioentwicklung, die unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten zumindest der wichtigsten Einflussfaktoren ein- und abzuschätzen. So stellen sich zum Beispiel aktuell einem Lebensmittelhersteller mittelfristig die Fragen:

  • Wie wirken sich die Corona-Krise und die sich abzeichnende Dürre im Sommer in vielen Weltregionen auf die Ernte von Getreide usw. im Herbst aus?
  • Wird eine weltweite Lebensmittelknappheit entstehen, die unsere Beschaffungs- und Produktionskosten in die Höhe treibt?
  • Wie wirken sich die erhöhten Preise auf das Nachfrageverhalten in unseren Zielmärkten aus?

Und langfristig?

  • Welche Stadt-Land-Verschiebungen wird es in unseren wichtigsten Beschaffungs- und Absatzmärkten im Gefolge der Krise geben?
  • Werden die Handelsketten eine noch größere Einkaufsmacht erlangen?
  • Werden Staaten die industrielle Landwirtschaft verstärkt fördern und ihre Ausfuhrbestimmungen verschärfen?
  • Wird der Bio-Trend und Trend zum Urban Gardening in den Industrienationen einen weiteren Push erfahren?

Solche Einflussfaktoren nebst ihren möglichen unterschiedlichen Ausprägungen und Wechselwirkungen gilt es bei der Szenarioentwicklung zu bedenken.
Entsprechend viele Szenarien sind aktuell möglich. Von diesen lassen sich in der Regel jedoch viele aufgrund ihrer Ähnlichkeit in Clustern zusammenfassen. Dies ist auch sinnvoll, um ein effektives Weiterarbeiten zu ermöglichen.
In der Praxis empfiehlt es sich, die Szenarien auf maximal ein halbes Dutzend zu begrenzen:

  • die beiden Extremszenarien (Best und Worst Case),
  • das Trendszenario und
  • eventuell ein, zwei ausgewählte alternative Szenarien.

Mithilfe einer Wechselwirkungsanalyse kann deren Plausibilität geprüft werden.
Das Ergebnis dieser Phase ist eine Übersicht über die mögliche Ausprägung der verschiedenen Einflussfaktoren und eine handhabbare Zahl von Szenarien, mit denen weitergearbeitet wird. Diese empfiehlt es sich narrativ zu beschreiben, damit sie leichter kommunizierbar sind.

Schritt 4: Bewerten und Interpretieren der Szenarien

Die ausgewählten Szenarien werden weiter untersucht. Sie werden einander mit ihren geschätzten Eintrittswahrscheinlichkeiten sowie den mit ihnen verbundenen Chancen und Risiken gegenübergestellt. Hierauf aufbauend können die Unternehmen dann ermitteln,

  • welche strategischen Optionen und Handlungsoptionen sie haben und
  • an welchen Punkten ihre aktuelle Strategie geändert werden muss.

Die strategischen Optionen und Handlungsoptionen sind jedoch so lange nur theoretische, wie nicht der Gegencheck erfolgte, welche von ihnen für das Unternehmen überhaupt realisierbar sind – zum Beispiel aufgrund seiner Marktposition und -macht, seiner (finanziellen) Ressourcen, seiner Kompetenz. Hierauf aufbauend können dann Maßnahmen definiert werden, um sich für die realistischen Szenarien zu wappnen.
Das Ergebnis dieser Phase ist eine Gegenüberstellung der verschiedenen Szenarien nebst den Annahmen, die ihnen zugrundeliegen, sowie der hieraus abgeleiteten strategischen Optionen und Handlungsoptionen.

Schritt 5: Sich auf eine (vorläufige) Strategie verständigen

Ist dies geschehen, erfolgt noch mal ein Gegencheck: Sind die in Schritt 1 definierten Ziele überhaupt realistisch? Wenn nein, müssen diese modifiziert werden. Danach verständigen sich die Entscheider auf eine (vorläufige) Strategie, die das Unternehmen künftig verfolgt, um seine Ziele zu erreichen.
Dieser Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess verläuft oft nicht konfliktfrei, denn: Aufgrund ihrer beruflichen Biografie und Funktion in der Organisation schätzen die Teilnehmer die Ist-Situation, die aus der Krise resultierenden Risiken und Chancen und somit auch die Handlungsmöglichkeiten verschieden ein. Zudem sind mit der strategischen Neupositionierung oft harte Entscheidungen verknüpft wie: Wir stellen bestimmte Geschäftsfelder oder Leistungen ein. Oder wir verfolgen gewisse Projekte nicht mehr. Oder wir entlassen Mitarbeiter.
Deshalb gibt es in diesem Prozess nicht selten Top-Entscheider (und Bereiche), die sich zumindest als Verlierer empfinden, weshalb die Unternehmen anschließend nicht selten verkünden: „Vorstandsmitglied x hat wegen strategischer Differenzen das Unternehmen verlassen.“ Auch deshalb empfiehlt es sich, den Prozess der Strategieentwicklung durch einen neutralen, externen Moderator moderieren zu lassen, der kontroverse Diskussionen zwar nicht unterbindet, aber in eine zielführende Richtung lenkt – speziell dann, wenn auch harte Entscheidungen auf der Agenda stehen. Das Ergebnis dieser Phase ist eine Verständigung auf eine (vorläufige) Strategie im Wissen darum, auf welchen Annahmen sie basiert.

Schritt 6: Sich auf einen Plan B und Controllingmaßnahmen verständigen

Erleichtert wird das strategische Neustellen der Weichen aktuell dadurch, dass die momentane Schieflage vieler Unternehmen nicht auf Managementfehler zurückzuführen ist. Dies reduziert die Gefahr, dass die Entscheider sich in wechselseitigen Schuldzuweisungen verstricken. Hinzu kommt die Tatsache, dass die beschlossene Strategie nur eine aufgrund des aktuellen Wissens- und Kenntnisstands entwickelte vorläufige sein kann. Dieses Bewusstsein gilt es den Beteiligten immer wieder mit Nachdruck zu vermitteln.
Hieraus resultiert jedoch auch die Aufgabe, sich zumindest grob auf einen Plan B bzw. Fahrplan zu verständigen für den Fall, dass alles oder zumindest vieles anders kommt als gedacht. Zudem ist mit dem Verabschieden bzw. „Sich-Committen“ auf eine neue Strategie unlösbar die Aufgabe verknüpft, sich auf Controlling- bzw. Monitoringmaßnahmen zu verständigen, inwieweit sich die ihr zugrundeliegenden Annahmen im Zeitverlauf als zutreffend erweisen.
Zudem gilt es, einen Fahr- und Zeitplan zu definieren, wann und wie die Entscheider überprüfen, ob das Unternehmen mit der vereinbarten Strategie seine Ziele erreicht oder ob eine Modifikation der Strategie und des Maßnahmenplans nötig ist.

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