Wie lange gilt die HOAI noch?

EuGH zur HOAI Teil II

Deutsches Ingenieurblatt 10/2019
Recht

Nach dem Urteil des EuGH vom 04.07.2019 in der Rs. C-377/17 stellt sich nun die Frage, ob die Mindest- und Höchstsätze der HOAI schon mit der Entscheidung des EuGH unwirksam geworden sind oder erst eine Änderung der HOAI erforderlich ist. Dies ist heftig umstritten. Vorsorglich sollten bis auf Weiteres keine Angebote unterhalb der Mindestsätze oder oberhalb der Höchstsätze abgefordert, abgegeben oder beauftragt werden. Auch Streitigkeiten aus Altverträgen sollten bis zur abschließenden Klärung zurückgestellt werden. 

Frage 1: Ein Ingenieur: „In einem Vertrag von 2015 wurde die Honorarzone II vereinbart. Es liegt aber ohne Frage Honorarzone III vor. Kann ich das Mehrhonorar für die zutreffende Honorarzone auch nach dem Urteil des EuGH noch nachfordern?“ 

Frage 2: Ein Auftraggeber: „Kann ich denn jetzt auch Angebote werten und annehmen, die unterhalb der HOAI-Mindestsätze liegen?“

Frage 3: Ein Architekt: „Kann ich heute auch Angebote oberhalb der HOAI-Höchstsätze abgeben?“

Vorab:
Der EuGH hat entschieden, dass die Mindestund Höchstsätze der HOAI (nachfolgend vereinfacht HOAI) nicht konform zum EU-Recht sind. Art. 260 Abs. 1 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der EU – früher EG-Vertrag) regelt: „Stellt der Gerichtshof der Europäischen Union fest, dass ein Mitgliedsstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat, so hat dieser Staat die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben.“ Im Urteil hat der EuGH nur festgestellt, dass die HOAI gegen EU-Recht verstößt – ein sogenanntes Feststellungsurteil. Demnach hat der EuGH der Bundesrepublik Deutschland (BRD) nicht gesagt, was sie tun soll. Die BRD ist nun aufgefordert, die Rechtslage so zu verändern, dass nicht mehr gegen EU-Recht verstoßen wird. Das könnte man einerseits so verstehen, dass es noch bei der aktuellen HOAI bleibt, solange es noch keine neue HOAI gibt. Andererseits hatte früher der EuGH am 30.01.2018 in den Rs. C-360/15 und C-31/16 bereits entschieden, dass Art. 15 der Dienstleistungsrichtlinie (DLR) unmittelbare Wirkung entfalten kann. (Im Prozess um die HOAI ging es auch um einen Verstoß gegen die DLR.) Folgt man diesem Urteil, müssten deutsche Gerichte heute bereits das Urteil des EuGH zur HOAI beachten. So sehen es die beiden Entscheidungen des OLG Celle vom 17.07.2019 - 14 U 188/18 und 23.07.2019 – 14 U 182/18. Anders sieht es das OLG Hamm  in seiner Entscheidung vom 23.07.2019 – 21 U 24/18.

Das OLG Celle führt im Leitsatz jeweils aus: „Die Entscheidung des EuGH vom 04.07.2019 (…) ist auch in laufenden Verfahren umzusetzen. Die für die nationalen Gerichte bindende Auslegung des EU-Rechts wirkt sich auf bestehende Vertragsverhältnisse aus, wenn dort in Abweichung des vereinbarten Honorars unter Bezug auf den HOAI-Preisrahmen ein Honorar in diesem Rahmen durchgesetzt werden soll.“ Demnach wäre der Preisrahmen der HOAI seit dem 04.07.2019 nicht mehr gültig. Im Urteil begründet das OLG Celle dies allgemein mit dem „Anwendungsvorbehalt des Europarechts“ und nimmt dazu die Stellungnahme des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom 4. Juli 2019, Az. 1 B6-20614/001, und eine Kommentarmeinung in Bezug. Mit aktuellem Urteil vom 14.08.2019 - 14 U 198/18 (nicht rechtskräftig) wiederholt und vertieft das OLG Celle dies erneut. 

Demgegenüber führt das OLG Hamm in der genannten Entscheidung aus: „Die maßgeblichen Bestimmungen der HOAI, auch zum Mindestpreischarakter, sind hier anwendbar. Daran ändert die Entscheidung des EuGH im Vertragsverletzungsverfahren (…) (EuGH, IBR 2019, 436) nichts. Das Urteil des EuGH im Vertragsverletzungsverfahren bindet nämlich nur den Mitgliedsstaat, der nach eigenem Ermessen die geeigneten Maßnahmen ergreifen muss, um den europarechtswidrigen Zustand zu beseitigen.“ Demnach wäre der Preisrahmen der HOAI auch weiterhin gültig, weil mit dem Urteil des EuGH zur HOAI nur die BRD aufgefordert sei, die HOAI zu ändern, aber noch nicht die Gerichte. Eine richtlinienkonforme Auslegung der HOAI komme nach OLG Hamm nicht in Betracht, sodass eine Befolgung des EuGH ohne HOAIÄnderung nicht möglich sei. Weiter heißt es im Urteil: „So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (BGH NJW 2016, 1718, 1721; EuGH, NZA 2014, 193, 195).“ Demnach wäre eine Auslegung gegen „geltendes Recht“, hier der HOAI, nicht zulässig. Das Gericht begründet dies im Zitat mit Entscheidungen des BGH und des EuGH und nimmt an anderer Stelle zudem noch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Grundlage. Das OLG Hamm entscheidet klar gegen OLG Celle, weshalb es die Revision zum BGH explizit zugelassen hat. Dem Urteil des OLG Hamm hat sich aktuell auch ein weiteres zweitinstanzliches Gericht angeschlossen und die Begründung umfangreich vertieft (KG, Beschluss vom 19.08.2019 - 21 U 20/19 (nicht rechtskräftig)). Alle Entscheidungen sind nicht rechtskräftig.

Die Revision zum Urteil des OLG Hamm liegt dem BGH bereits vor (Az.: VII ZR 174/19). Erst mit einer BGH-Entscheidung, sei es mit oder ohne Verfahrensaussetzung und Anrufung des EuGH für den konkreten Fall zwecks Klärung, ist abschließend klar, ob die Mindest- und Höchstsätze der HOAI seit dem 04.07.2019 obsolet sind oder noch bis zur Einführung einer neuen HOAI fortgelten. Der BGH wird dabei als milderes Mittel wohl auch prüfen, ob nicht eine richtlinienkonforme Auslegung der HOAI in Betracht käme. Auf den Meinungsstreit der OLGs käme es dann nicht mehr an. Wendet man nämlich den Wortlaut (!) von § 1 HOAI an, gilt die HOAI allein für Ingenieure und Architekten. Solange also der BGH nicht abschließend entschieden hat, ist jedenfalls nicht sicher, dass nicht aktuell immer noch die HOAIMindest- und Höchstsätze gelten. Sie sollten weiter beachtet werden. 

Auf dieser Grundlage und unter Berücksichtigung der Vermeidung von Streitigkeiten gibt die GHV folgende Antworten:


Antwort 1: Auf Nachfrage hat der Ingenieur bestätigt, dass es zu einer Unterschreitung der Mindestsätze der HOAI komme, wenn die Honorarzone II anzusetzen wäre und er ein Mehrhonorar auf Basis der Mindestsätze der Honorarzone III beanspruchen will. Vor dem Urteil des EuGH zur HOAI wäre die Mehrforderung mit Bezug auf das Urteil des BGH vom 13.11.2003 - VII ZR 362/02 recht einfach möglich gewesen. Denn damals hat der BGH entschieden: „Eine Vereinbarung einer zu niedrigen Honorarzone, die zu einer Unterschreitung der Mindestsätze der in Betracht kommenden zutreffenden Honorarzone führt, ist im Regelfall nicht wirksam.“ Demnach waren Vereinbarungen zur Honorarzone, welche zu einer Mindestsatzunterschreitung geführt haben, unwirksam. Da im Moment aber unklar ist, ob eine solche mindestsatzunterschreitende Vereinbarung nicht doch wirksam ist, rät die GHV dem Ingenieur: Abwarten! Dabei wird eine Entscheidung des BGH (oder erneut des EuGH) sicherlich nicht in wenigen Monaten erfolgen. Solange jedoch keine Verjährung  zu befürchten ist, ist das für eine Nachforderung unproblematisch (zur Verjährung Kalte/Wiesner im DIB 05/2015, S. 50).

Antwort 2: Verschiedene Rundschreiben der Ministerien (für den Bund: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie vom 4. Juli 2019, Az. 1 B6-20614/001 und Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat vom 05.08.2019, Az. 70000/1#1, für Rheinland-Pfalz: Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau vom 09.07.2019, Az. 40 5-00001, für Bayern: Bayerisches Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr vom 05.07.2019, Az. Z5-4004.1-  4-1) führen weitgehend übereinstimmendaus, dass die Mindest- und Höchstsätze ab sofort nicht mehr anzuwenden seien. Die Ministerien gehen also ohne Weiteres von einem Anwendungsvorbehalt des EU-Rechts aus. So einfach ist die aktuelle Rechtslage aber nicht. Es ist ein Dilemma: Akzeptiert ein  öffentlicher Auftraggeber mindestsatzunterschreitende Angebote, wehren sich ggfs. andere Bieter vor einer Vergabekammer mit Hinweis auf eine Gültigkeit oder richtlinienkonforme Auslegung der HOAI; eine Vergabekammer könnte den EuGH dazu anrufen. Werden nur Mindestsätze akzeptiert, wehren sich ggfs. andere Bieter, da ihrer Meinung nach eine Unterschreitung zulässig sei, und ziehen auch vor eine Vergabekammer. Vergaberechtlich böte sich eine Prüfung an, ob es sich bei mindestsatzunterschreitenden Angeboten um ungewöhnlich niedrige Angebote handelt (§ 60 VgV oder § 44 UVgO). Zieht am Ende keiner vor die Vergabekammer, sollte der Auftraggeber im Haushalt jedenfalls vorsorglich einen dem Mindestsatz entsprechenden Betrag einstellen. Denn im Moment kann ihm niemand garantieren, dass er am Ende nicht doch den Mindestsatz zahlen muss.

Antwort 3: Auf Nachfrage erläutert der Architekt, dass es um einen Schulumbau im Bestand in kürzester Zeit gehe, und das in Honorarzone III. Bisher konnte er immer nur einen Umbauzuschlag von 33 % entsprechend dem Höchstsatz in § 36 Abs. 1 HOAI anbieten. Damit ist er aber in der Vergangenheit nicht ausgekommmen. Jetzt würde er gerne 50 % anbieten. Auf weitere Nachfrage teilt der Architekt mit, dass er als Honorarsatz bereits den Höchstsatz gewählt habe. Auch hier gelten grundsätzlich dieselben Ausführungen wie zur Antwort 2. Der Architekt kann 50 % Umbauzuschlag anbieten. Ob dieser am Ende Bestand hat, ist nicht sicher.  

Fazit
Der EuGH hat am 04.07.2019 entschieden, dass die Mindest- und Höchstsätze der HOAI nicht konform zum EU-Recht sind. Umstritten bis zur zweiten Instanz ist, ob das Urteil nun seit dem Tag der Verkündung gilt oder erst mit Einführung einer neuen HOAI. Eine Seite argumentiert mit dem Anwendungsvorbehalt des EU-Rechts, die andere Seite mit dem noch geltenden Recht. Beides lässt sich gut vertreten und auch verstehen. Solange keine Rechtssicherheit gegeben ist, sollten die Parteien Streitigkeiten meiden und „weiterhin“ die Mindest- und Höchstsätze beachten. 

Gütestelle Honorar- und Vergaberecht
(GHV) gemeinnütziger e. V.
Friedrichsplatz 6, 68165 Mannheim
Tel.: 0621 – 860 861 0
Fax: 0621 – 860 861 20

Zur Informtion:

RA Michael Wieser, LL.M., kommt in einem Aufsatz, der in der Zeitschrift IBR 2019,1146 online erschienen ist, beim Mindestsatz zu dem Ergebnis, dass eine richtlinienkonforme Auslegung möglich sein kann: über den § 1 HOAI statt über § 7 HOAI, wie es derzeit diskutiert wird und natürlich nicht geht.

Wendet man entgegen der bisherigen in Deutschland herrschenden Meinung, die über den Wortlaut der HOAI hinausgeht (Analogie), nur den eigentlichen Wortlaut von § 1 HOAI an, „Architekten und Ingenieure“, gilt die HOAI nur für diese. 

Das beseitigt den EuGH-Vorwurf der Inkohärenz auf Vergütungsebene. Es gelten dann nach wie vor die Mindestsätze, da nur Architekten und Ingenieure unter die HOAI fallen. Weitere Details dazu im Aufsatz unter folgendem Link: www.michael-wiesner.de/wp-content/uploads/2019/09/2019-08-30%20Wiesner%20Aufsatz%20EuGH%20vs%20HOAI-final.pdf

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