Geschichte neu interpretiert

green BUILDING 01/2020 (#95)
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Wie sich ein historischer Stadel in eine moderne, offene Bücherei verwandeln lässt, zeigten Steimle Architekten in Kressbronn am Bodensee. Mit dem Sockel aus Liapor-Leichtbeton, dem hölzernen Tennengeschoss und dem auskragenden Satteldach wird das Bild des Gebäudes bewahrt, das bauliche Erbe aber auch in die Gegenwart transformiert. 

Der kleine Ort Kressbronn am Bodensee ist ein beschauliches Städtchen mit stark traditionell beeinflusstem Baubestand. Dies gilt auch für die 1923 im Ortskern zwischen Marktplatz und Festhalle errichtete Scheune. Sie prägte mit ihrem massiven Sockel, dem hölzernen oberen Tennengeschoss und dem weit auskragenden Satteldach über Jahrzehnte das Ortsbild von Kressbronn. Als die Gemeinde 2012 Steimle Architekten aus Stuttgart beauftragte, den Stadel in eine öffentliche Bücherei samt Bürgertreff umzuwandeln, war für Architekt Thomas Steimle deshalb auch klar: Der Umbau des früher landwirtschaftlich genutzten Stadels sollte den Charakter des Hauses bewahren, das weit auskragende, schützende Dach erhalten und auch die traditionelle Gliederung in ein massives Erdgeschoss und ein darüberliegendes filigranes Tennengeschoss übernehmen. „Dem baulichen Erbe mit Rücksicht und Respekt zu begegnen und den alten Stadel mit einfachen, präzise  gesetzten und wohldurchdachten Eingriffen in ein modernes, offenes Haus zu transformieren, waren die Leitgedanken für unseren Entwurf“, erklärt Thomas Steimle.

Authentische Massivität
Geplant war, die alte Fassade mit ihrer charakteristischen Stülpschalung durch eine filigrane Holzkonstruktion zu ersetzen, das Sockelgeschoss aus grobem, verputztem Mauerwerk und Beton aber zu erhalten. Im Zuge der Baumaßnahmen zeigte sich jedoch, dass die vorhandene Substanz nicht mehr zu verwenden war und komplett abgetragen werden musste. An ihre Stelle trat ein neuer, bis zu 3,5 Meter hoher Sockel aus 77 Zentimeter starkem Liapor-Leichtbeton. Die Entscheidung für diesen Baustoff trafen Steimle Architekten nicht nur aus statischen und energetischen Gründen: „Der Liapor-Leichtbeton spiegelt in seiner Materialität und monolithischen Massivität auch perfekt den Charakter des alten Sockels wider“, so Thomas Steimle. „Gleichzeitig lässt sich am Leichtbeton auch dessen Erstellung ablesen, in Anlehnung an das Handwerkliche des früheren Sockels.“ Deswegen wurden die Sichtbetonflächen auch nicht aufwändig veredelt, sondern erscheinen so, wie sie nach dem Ausschalen zutage traten. „Der Leichtbeton entwickelt seine Schönheit und Qualität dadurch, dass er sehr authentisch ist. Es ist ein grundehrlicher Baustoff, durch und durch echt.“

Horizontale Betonierabschnitte
Beim Leichtbeton-Sockel, der zwischen Mai und Oktober 2017 errichtet wurde, konnten Steimle Architekten auch auf ihre Leichtbeton-Erfahrungen vom Objekt E 20 in Pliezhausen zurückgreifen. „Wir konnten unser Wissen um die Leichtbeton-Verarbeitung an den hiesigen Rohbauer weitergeben und so die hohe Qualität des einen Projekts auf das andere übertragen“, so Thomas Steimle. Gemeinsam mit allen Beteiligten wurden vor Ort in Kressbronn auch Musterwände erstellt und die passende Verarbeitungsweise ermittelt. Dabei wurde auch die wichtige Frage der Abschnitte der Betonage geklärt, die nicht senkrecht und längs aneinander gestückelt erfolgen sollte. Vielmehr wurde in zwei waagrechten Abschnitten betoniert, und zwar zunächst bis Unterkante Brüstung und dann darauf bis zur finalen Sockelhöhe. Der resultierende Horizontalschnitt auf Brüstungsebene wurde so positioniert, dass er genau mit einer Stoßfuge der horizontalen Brettschalung zusammenfällt und damit unsichtbar ist. Die sägeraue Brettholzschalung wurde für sämtliche Außen- und Innenwände des Sockels verwendet. Im Vergleich zu E 20 wurden bewusst etwas gröber gesägte Bretter gewählt, um die handwerkliche Struktur und die besondere Haptik des Materials noch eindrücklicher zu unterstreichen.

Spannungsreiche Komposition
Ein weiteres Kennzeichen des neuen Leichtbeton-Sockels sind auch die tiefen, großzügig gesetzten Laibungen. Durch diese neuen Öffnungen gelangt nicht nur deutlich mehr Tageslicht in den Innenraum, vielmehr kann das gesamte Interieur vollkommen neu erlebt werden, denn Innen und Außen öffnen sich im Erdgeschoss über die großen Verglasungen zueinander. Für den Sockel kamen rund 135 Kubikmeter des Liapor-Leichtbetons LC12/13 mit einer Rohdichte von 1.200 kg/ m³ zum Einsatz. Hergestellt und geliefert wurde er in der Liefergemeinschaft von Hans Rinninger u. Sohn GmbH u. Co. KG, Kißlegg, und Betonwerk Pfullendorf GmbH & Co. KG, Pfullendorf, die Verarbeitung übernahm die Bohner Bau GmbH in Tettnang. Zwischen Mai und Oktober 2017 erfolgte die Rohbauerstellung. Nach dem Bau des Sockels wurde das Obergeschoss errichtet. Spannungsreiche Akzente setzen hier die sichtbaren Balken des Dachstuhls, die aufwändig restauriert und nur, wo unbedingt erforderlich, ersetzt wurden. Einzigartig sind auch die auf der gesamten Obergeschossfassade angebrachten vertikalen Holzlamellen. Sie sind in Längsachse unterschiedlich zueinander gedreht montiert und filtern das Tageslicht.

Ausgezeichnete Wirkung
Nach knapp zweijähriger Bauzeit wurde die Bücherei im Herbst 2018 feierlich eröffnet. „Der historische, eher introvertiert wirkende Speicher ist zu einem modernen, offenen Haus geworden. Die Geschichte und das vertraute Bild werden konserviert, gleichzeitig aber auch klar in der heutigen Zeit verortet“, beschreibt Thomas Steimle das Objekt, das allerseits äußerst positiv ankommt. Davon zeugen auch die vielen Preise, mit denen die Bücherei Kressbronn bereits ausgezeichnet wurde. Dazu gehören best architects 2020, materialPREIS 2019, Deutscher Holzbaupreis 2019, Beispielhaftes Bauen Landkreis Bodensee 2018, Fritz-Bender-Baupreis 2019 und die Top3-Auszeichnung des Deutschen Nachhaltigkeitspreises Architektur 2020. 

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