Der Weg der angewandten Naturwissenschaften ist Erkennen – Experiment (Separierung der Parameter) – Theorie (Mathematik) [1]. Die Methode ist die Induktion, also das Schließen von Einzelfällen auf das Allgemeine. Nicht die Deduktion, die Ableitung des Besonderen und Einzelnen vom (erdachten) Allgemeinen. Dementsprechend sollte das Denken der Ingenieure induktiv sein und in der Ausbildung auch entsprechend vermittelt werden, befand Stefan Polónyi. Der bekannte Bauingenieur hatte diesen Beitrag als kurze Stichwortsammlung vor seinem Tod für das DIB verfasst und wollte damit Anstoß zur Diskussion geben. Es war sein Wunsch, es als Aufforderung an die Ingenieurinnen und Ingenieure zu verstehen, sich mit der bestmöglichen Umsetzung und Wissensvermittlung ihres jeweiligen Fachgebiets immer wieder aufs Neue auseinanderzusetzen. Nun bleibt es sein letztes ingeniöses Vermächtnis.
Die Ausbildung im Ingenieurwesen folgt traditionellerweise der Reihenfolge „Wie?“ (Mathematik, theoretische Mechanik) und „Was?“ (Bauelemente und deren Beanspruchung). Das zweckmäßige Vorgehen wäre allerdings, in umgekehrter Abfolge zu fragen: „Was?“ (oder: „Wofür?“), dann „Wie?“ und im Anschluss „Warum?“.
Die Basis der Ausbildung würden Projekte bilden, die in Kooperation mit praxiserfahrenen Beratern erarbeitet wurden. Diese entsprechende Umstellung der Ausbildung würde zudem die Anzahl der Studienabbrecher wesentlich reduzieren. Die Aufgabenstellung für eine Tragwerksplanerin oder einen Tragwerksplaners könnte zum Beispiel lauten: Entwurf einer raumbegrenzenden Fläche oder Plattform für den Verkehr. Fragestellung: „Wie soll die Fläche geformt sein?“ (Abb. 1) „Was ist vorhanden, das zum Tragen aktiviert werden kann?“ (zum Beispiel: Geländer als Brüstungsträger bei Fußgängerbrücken), „Was muss hinzugefügt werden, damit sie trägt?“. Daraus resultiert die Frage: „Welche Bauart/welcher Baustoff eignet sich am besten zur Erfüllung der Aufgabe?“
Wichtig ist außerdem, sich bewusst zu werden, dass existierende Vorschriften nicht der Wegweiser für das Entwerfen sind, sondern eine Orientierungshilfe und unentbehrliche Stütze für den Nachweis der Gebrauchsfähigkeit.
Für kooperative Tätigkeitsfelder muss auch die Ausbildung kooperativ sein, um das gegenseitige Verständnis am gemeinsamen Projekt zu fördern. Beispielhaft ist dafür das Dortmunder Modell Bauwesen zu nennen.
Die einzelnen Bauarten und ihre Sprache
Für jede Bauart muss die eigene „Sprache“ gefunden werden; ihr dürfen keine mathematischen Systeme aufgezwungen werden [2]. Nachfolgend werden einige Beispiele für bauartgerechte Konstruktionen gezeigt. Die Erwartung ist, dass diese „Bauartsprachen“ von den praktizierenden Ingenieurinnen und Ingenieuren systematisch weiterentwickelt werden.
Holz: Verbindungsmittel des Holzes sind der Kleber und der Bolzen. Die Anschlussarten sind bevorzugt lateral.
- Flächentragwerke: Schalen aus zwei bis drei geklebten Bretterlagen. Bevorzugt werden Flächen mit geraden Erzeugenden (Zylinder, Kegel, Hyperboloid, hyperbolisches Paraboloid, Konoid). Die Bretter werden in die Hauptkrümmungsrichtung gelegt.
- Stabwerk/Fachwerkträger (Wechsel Einzelstab und Doppelstab mit Lateralanschluss, geklebt oder mit Bolzen-Gelenkanschluss). Die Zugstäbe sind ggf. aus Stahl.
- Bögen aus dünnen Brettern geleimt. Die Biegebeanspruchung sollte gering gehalten werden: Rahmen/Rahmenecken sind zu meiden.
Stahl: Elemente des Stahlbaus sind Blech (gefaltet: Trapezblech) und Walzstäbe. Verbindungsmittel sind bevorzugt Schweißnähte, Montageanschlüsse oder auch Schrauben oder Steckanschlüsse.
Die Zug- und Druckfestigkeit des Stahls sind etwa gleich groß. Biegebeanspruchungen, Rahmen/Rahmenecken sind problemlos. Mit Stahl können die in der theoretischen Mechanik gelernten Systeme nachgebaut werden. Da der Stahl eine hohe Festigkeit hat, kann die Konstruktion filigran ausgebildet werden, wobei die Stabilität druckbeanspruchter Bereiche (Knicken, Beulen) besondere Aufmerksamkeit erfordert.
Bei räumlichen Stabwerken ist es üblich, die Stäbe kurz zu schneiden und sie axial zum Knotenpunkt mit aufwändigen Knotenelementen einzubinden (z. B. MERO). Dabei wird die Stabkraft an den Knoten abgegeben Schützeund an seiner anderen Seite an den folgenden Stab weitergeleitet. Bei Lateralanschlüssen wird nur die Differenzkraft abgegeben, z. B. durch eine Schweißnaht oder Klemmen. Durch die nicht axiale Stabführung mit lateralem Anschluss lassen sich viele Schweißnähte und Knotenelemente einsparen.
Mauerwerk: Wegen der Festigkeitseigenschaften und des hohen Lohnaufwands kommt Mauerwerk heutzutage nur bei speziellen Aufgaben in Frage. Man kann sich auf die historische Erfahrung stützen. Die Mauerwerksbaukunst der Gotik kann nicht übertroffen werden. Die Gebrauchsfähigkeit kann man mit den Werten des Eurocodes 6 nachweisen.
Beton – armierter Beton (Stahlbeton): Da der Beton eine hohe Druckfestigkeit, aber eine geringe Zugfestigkeit aufweist, sollte so konstruiert werden, dass in bestimmten Bauteilen möglichst keine Zugspannungen auftreten. Die Römer haben die Sprache des Betons, opus cementitium, bestens beherrscht (Pantheon in Rom, Bauzeit: 114–119 u. Z.).
- Die vertikalen Koordinaten der hautartigen Schale werden so ermittelt, dass unter dominanter Belastung die Druckspannung in jedem Punkt und in jeder Richtung konstant ist.
- Zentrisch belastete Stützen bedürfen keiner Bewehrung. Druckkräfte sollten mit Beton, nicht mit Stahl aufgenommen werden.
- Der Widerstandsbeiwert des Betons muss mit dem des Stahlbeton-Betons gleichgesetzt werden (Deutsches Institut für Bautechnik, DIBt!).
- Die Aussteifung des Gebäudes besorgen die Wandscheiben/der Aufzugschacht, die oft unbewehrt bleiben können.
- Die Bewehrungsführung bestimmt den Spannungsverlauf. Bei richtiger Lage der Hauptbewehrung entstehen keine Schubspannungen, die mit zusätzlicher Bewehrung (Bügeln) aufgenommen werden müssen.
Die Bauwerke/Bauteile sind dreidimensional, deshalb darf man sie nicht zweidimensional in orthogonalen Ebenen betrachten: Das Fundament der zentrisch belasteten Stütze ist nicht quadratisch, sondern kreisförmig.
Es gibt keine Mindestbewehrung, keine konstruktive Bewehrung. Die Schwindspannungen werden betontechnologisch und konstruktiv minimiert. Die Einsparung der Bewehrung reduziert die Korrosionsgefahr, mindert die Baukosten, erleichtert das Recycling und verringert die CO2-Emissionen.
Die „Sprache“ des Faserbetons und seines Einsatzgebiets muss noch erkundet werden. Die Armierung gemäß der Lehre des Stahlbetons zu führen, hieße, über den Faserbeton in einer „Fremdsprache“ zu sprechen.
Vorschriften und Baukontrolle
Von den Vorschriften erwartet man, dass sie den wissenschaftlichen Erkenntnissen zügig folgen sowie die ökologischen und ökonomischen Aspekte berücksichtigen.
Das Zustimmungs- und das Zulassungsverfahren sollten grundsätzlich beschleunigt werden.
Welche Versagenswahrscheinlichkeit mit welchen Folgen die Gesellschaft zu akzeptieren und zu finanzieren bereit ist, leitet sich aus den Gegebenheiten ab.
Doch die Vorschriften können nicht alles erfassen. Wichtig ist auch, dass in der Umsetzung potenzielle Fehlerquellen von vornherein ausgeschlossen werden.
Das folgende Beispiel zeigt ein gängiges Problem bei der Abwicklung mancher Bauaufträge auf, um die enorme Relevanz einer lückenlosen und konsequenten Bauüberwachung zu unterstreichen: Ein Büroinhaber hat einen Auftrag erhalten. Der Büroleiter trifft die wichtigsten konstruktiven Entscheidungen und gibt bei einem freiberuflichen Statiker die Berechnung in Auftrag. Die Statik wird dann an einen anderen freien Mitarbeiter weitergeleitet, der die Bewehrungspläne anfertigt. Ohne die Unterlagen anzuschauen, werden sie dem Prüfingenieur vorgelegt: Sollte sich irgendwo ein Fehler eingeschlichen haben, werde er schon darauf aufmerksam machen.
Das Sekretariat des Prüfingenieurs leitet das Paket an einen freiberuflichen Prüfer weiter, der bisher nur geprüft und noch nie eine Statik ergestellt hat. Nachdem er die Zahlen abgehakt hat, gibt er die Unterlagen im Büro ab. Nun können sie der Baufirma zur Verfügung gestellt werden.
Schon bald kommt die Bewehrungsabnahme. Hierfür steht ein Abnehmer zur Verfügung, der mehrere Prüfingenieure bedient. Er kontrolliert die Übereinstimmung der Stabdurchmesser und der Abstände mit dem Bewehrungsplan.
Nachdem der Abnehmer die Baustelle verlassen hat, kommen die Installateure und verlegen ihre Leitungen. Sollte die Bewehrung im Weg sein, schneiden sie auch einige Stäbe heraus. Das ist kein Einzelfall. Läuft es gut, haben alle Beteiligten ihre Arbeit in höchster Qualität und mit dem größtmöglichen Anspruch an Sorgfalt und Kompetenz ausgeführt, auf Schwachpunkte hingewiesen und von eigenmächtigen Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen abgesehen. Läuft es schlecht, führt das eine zum anderen und verursacht in der Folge nicht nur höhere Kosten, sondern kann gegebenenfalls schlimme Folgen haben.
Wir sind stolz auf unser Vieraugenprinzip (Ärzte beispielsweise, deren Entscheidungen einen direkten Einfluss auf unser Leben haben, haben so etwas nicht.). Aber auf diese Art der stichprobenartigen Prüfung können wir ruhig verzichten. Wenn jedes Bauvorhaben einen verantwortlichen, entsprechend qualifizierten Projektleiter hat, der den Bauvorgang vom Anfang bis zur Übergabe begleitet! Das ist ein Muss!
Die Schwierigkeit beginnt meist schon bei der Auftragsvergabe: Bei der Ausschreibung einer Prüfingenieurleistung wird oft der Mindestjahresumsatz mit einigen Millionen vorgegeben. Bei diesem Umsatz wird allerdings auch sichergestellt, dass der Prüfer die lizensierte Tätigkeit gar nicht persönlich wahrnehmen kann …
Der Umgang miteinander – die Atmosphäre in der Planungsgruppe und auf der Baustelle
Ziel müssen immer das Gelingen des Projekts und ein allen Ansprüchen genügendes Bauwerk sein – nicht die Profilierung Einzelner oder Rechthaberei um jeden Preis. Es ist wichtig, dass im Team stets eine angenehme Atmosphäre herrscht. (Ein Vorbild hierbei war sicher Harald Deilmann, der zahlreiche Erfahrungswerte in das Dortmunder Modell einfließen ließ.) Wenn man merkt, dass jemand in der Gruppe Schwierigkeiten hat, sollte man nicht mit Sanktionen drohen, sondern ihm mit Rat und Tat behilflich sein. Die psychologische Komponente sollte bereits im Studium geübt werden. Man hätte bei der Elbphilharmonie, beim Berliner Flughafen und bei der Kölner Oper mit einer solidarischen Leitung viel Geld und Zeit sparen können.
Im Schadensfall sollte die erste Frage nach Ralf Wörzberger nicht lauten: „Wer ist der Verursacher?“, sondern: „Wie kann der Schaden behoben werden und was kostet es?“ Als nächstes folgt in der logischen Konsequenz die Frage: „Wer kommt dafür auf?“ Eine Baustelle über zehn Jahre wegen der Beweissicherung stillzulegen, nur, um die Fehlentscheidung der Bauleitung mit der Schuld beispielsweise des Baggerführers zu vertuschen, ist töricht – und gemein.
Zum Schluss ein Wort zum Wettbewerb und zum Urheberrecht
Bei Wettbewerben, bei denen die Tragwerksplanung unentbehrlich ist oder sogar besonders gefordert wird, ist das Urheberrecht des Ingenieurs oft nicht garantiert. In vielen Fällen erfährt der Ingenieur, der den Wettbewerb gewonnen hat, dass der Ingenieurauftrag bereits vor der Ausschreibung vergeben war. Das ist noch auf die Vorstellung zurückzuführen, Statik wäre Rechnen: 2 x 2 = 4, egal, wer es rechnet. Demnach wurde die Statik nicht als kreative Leistung anerkannt. Auch hier besteht noch großer Handlungs- und Nachbesserungsbedarf. Ein kleiner Vergleich hierzu: Die Urheberschaft eines Fotografen (eines jeden Bildes!) ist gesichert, die (häufig höchst anspruchsvolle und zeitintensive) Tätigkeit des Ingenieurs nicht. Es ist wichtig, dass die Ingenieurkammern gemeinsam mit den Ingenieurinnen und Ingenieuren hier aktiv werden.