Es waren weitreichende Beschlüsse, die die Bundesregierung im März 2011 als Reaktion auf den Reaktorunfall im japanischen Kernkraftwerk Fukushima fällte: Die deutschen Kernkraftwerke sollten im Zuge der Energiewende vom Netz genommen werden, bis 2022 soll der Atomausstieg abgeschlossen sein. Dieses Jahr stellen die Kernkraftwerke Grohnde (Niedersachsen), Gundremmingen C (Bayern) und Brokdorf (Schleswig-Holstein) ihren Betrieb ein, im kommenden Jahr folgen die Reaktoren Isar II (Bayern), Emsland (Niedersachsen), und Neckarwestheim II (Baden-Württemberg). Dann ist hierzulande jene Energieerzeugungsart, die im Vor-Fukushima-Jahr 2010 noch für fast ein Viertel (22,5 %) der deutschen Stromerzeugung gut war, Geschichte.
Doch nur, weil die Kraftwerke in ihren charakteristischen Reaktorkuppeln keinen Strom mehr erzeugen, sind sie noch lange nicht von der Landkarte getilgt. Bereits beim Rückbau normaler Bauten gelten zahlreiche Gesetze, Verordnungen und Richtlinien. Zusätzlich unterscheiden sich diese oftmals von Bundesland zu Bundesland. Dazu gesellen sich Wertstoffe, hochradioaktive Bauteile und gesundheitsgefährdende Abfälle, deren Entsorgung genau geplant sein muss. Die Nachbetriebs- und Stilllegungsphase dauert meist viele Jahre und beinhaltet unter anderem die genaue Erfassung sämtlicher Anlagenteile innerhalb der Bereiche, in denen Material radioaktiver Strahlung ausgesetzt war. Auf Basis dieser Daten wird eine Abbauplanung erstellt, die wiederum Voraussetzung für eine Stilllegungs- und Abbaugenehmigung ist. Erst wenn diese durch die zuständigen Behörden erteilt ist, kann die Abbauphase und damit der Rückbau des Kraftwerks beginnen.
Stilllegungs- und Abbauplanung ist extrem aufwändig
Insgesamt können von jenem Zeitpunkt, an dem das Kraftwerk vom Netz geht, bis zum Ende des Rückbaus mehrere Jahrzehnte ins Land gehen. Das erste deutsche Kernkraftwerk in Kahl am Main in der Nähe von Aschaffenburg beispielsweise war 25 Jahre in Betrieb, bis es im Jahr 1985 abgeschaltet wurde. Der Abriss dauerte dann länger als der Betrieb und kostete mit 150 Millionen Euro sogar mehr als der Aufbau. 2008 waren die Rückbauarbeiten des Reaktorblocks vollständig abgeschlossen; alle übrigen Gebäude wurden 2010 abgerissen – über das Areal, auf dem einst das deutschen Pionierprojekt für die neue Technologie stand, ist heute Gras gewachsen. Der Rückbau des Atomkraftwerks Stade, dem ersten Reaktor, der aufgrund des rot-grünen Atomausstiegs vom Netz genommen wurde, ging zwar etwas schneller vonstatten, dauerte aber immer noch 13 Jahre.
Der Grund für die lange Zeit zwischen Stilllegung und vollständigem Rückbau liegt darin, dass viele strahlenbelastete Teile aufwändig zerlegt und gereinigt werden müssen, bevor sie entsorgt werden können. Und so ein Kernkraftwerk ist groß: So müssen beispielsweise beim AKW Greifswald 1,8 Millionen Tonnen Bausubstanz beseitigt werden.
Erleichtern lässt sich die aufwändige Stilllegungs- und Abbauplanung, wenn man dafür auf modernstes digitales Handwerkszeug zurückgreift: das Building Information Modeling, kurz BIM. Damit wird eine Methode der vernetzten Zusammenarbeit bezeichnet, die alle relevanten Daten in einem Modell bündelt und für die digitale Vernetzung aller Prozesse, Produkte und Beteiligten sorgt. Im Prinzip ist Building Information Modeling für die Immobilienbranche das, was Industrie 4.0 für den Maschinenbau bedeutet.
Building Information Modeling hilft beim Kraftwerksrückbau
Konkret bedeutet das: Bevor beim Rückbau der erste Stein umgedreht wird, wird ein digitales Modell des realen Kraftwerks und der technischen Anlagen konstruiert. Dieses Modell umfasst dabei längst nicht nur die geometrischen Daten, sondern genauso sämtliche Angaben etwa zu Material oder Brandschutzvorrichtungen. So entsteht ein digitaler Zwilling mit einer Informationstiefe bis ins kleinste Detail. Anschließend lassen sich mithilfe dieses digitalen Gebäudemodells, auf das idealerweise alle Bauakteure in Echtzeit von überall aus zugreifen können, sämtliche Termin-, Bau-, Materialfluss- sowie Logistikabläufe simulieren.
Plant man den Rückbau eines Kernkraftwerks mit BIM, wird dafür zunächst mit entsprechenden Geräten das gesamte Kraftwerk gescannt. In Räumen, die aufgrund der hohen Strahlenbelastung nicht zugänglich sind, kommen Roboter zum Einsatz. Auch entsprechende Messungen etwa zur Kontamination der einzelnen Räume mit Radioaktivität, Asbest oder anderen gefährlichen Materialien sind möglich. Auf diese Weise entsteht ein wahrheitsgetreues, virtuelles Modell des Kraftwerks inklusive Schadstoffkataster, das bis auf wenige Zentimeter genau den Ist-Zustand abbildet. In diesem Modell plant das Team den Rückbauprozess und die Rückbaulogistik und ergänzt es um kritische Informationen. Mithilfe von BIM lässt sich nicht nur der Abbau bereits bestehender Gebäude effizient planen, auch neue Bauvorhaben können damit strukturiert umgesetzt werden.
Alle Rädchen greifen ineinander
Dieses Vorgehen mag erstmal aufwändig klingen, denn den digitalen Zwilling mit allen notwendigen Daten anzureichern, erhöht natürlich zunächst den Aufwand in der Vorbereitung. Dafür werden Unstimmigkeiten nicht erst während des Rückbauprozesses und der Baulogistik bemerkt, wo sie zu teuren Zeitverzögerungen führen können, sondern das digitale Modell weist mittels Kollisionsprüfung selbst auf Fehler hin und sorgt damit für einen reibungslosen Ablauf des Rückbaus. Zudem lassen sich mehrere Planungsvarianten im BIM-Modell durchspielen und miteinander vergleichen – sowohl die zeitlichen Abläufe als auch die Kosten betreffend.
Und nicht nur die Planung wird erleichtert, sondern auch mit Blick auf die praktischen Abläufe beim Rückbau bringt BIM gleich mehrere große Vorteile mit sich: Zum einen wird die Arbeitssicherheit für jeden Einzelnen erhöht, der später einmal auf der Anlage arbeitet – denn schließlich kann man virtuell durch das Kraftwerk spazieren und sich so vor unangenehSommermen Überraschungen in der Realität schützen. Ganz im Sinne des Arbeits- und Strahlenschutzes werden dabei zeitaufwändige Ein- und Ausschleusprozesse im Kontrollbereich reduziert. Zum anderen lässt sich mit den aus dem BIM-Modell quasi auf Knopfdruck generierten Massen eine genau getaktete Rückbauplanung sowie eine detaillierte Ausschreibung, Arbeitsvorbereitung und Baulogistik realisieren, inklusive lückenloser Nachweisführung gegenüber Gutachtern und Behörden.
Weil auf diese Weise alle Rädchen ineinandergreifen, geht der Rückbauprozess viel schneller vonstatten. Und dann dauert es nicht mehr lange, bis die Kernenergie in Deutschland wirklich Geschichte ist – und dort, wo heute noch die Reaktorkuppeln aufragen, nur noch grüne Wiese übrig bleibt.