Adaptive Tragwerke für klar definierte Beanspruchungen

Umbruch in der Baubranche

Deutsches Ingenieurblatt 10/2021
Bildung, Forschung und Kultur
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Maximale Belastung und minimaler Materialeinsatz – das sind die Anforderungen an die heutigen Bauwerke. Die Probleme unserer Zeit wie der Klimawandel, die Ressourcenknappheit und das Bevölkerungswachstum erfordern eine bauliche Revolution. Für unsere gebaute Umwelt sind andere Herangehensweisen notwendig, um den zukünftigen Problemen entgegenzuwirken. Das bedeutet: Möglichst ressourcenschonend und weitestgehend emissionsfrei zu bauen. Warum sind adaptive Tragwerke in diesem Kontext notwendig und wie funktionieren sie?

Die Tragwerke im Bauwesen sind eindeutig für klar definierte Beanspruchungen ausgelegt. Dabei kommt es bei den Lastfallbetrachtungen und den daraus resultierenden  Lastfallkombinationen zu Szenarien, die extrem selten und meist nur von kurzer Dauer sind. Diese Kombinationen bilden die Maximalbeanspruchung eines Tragwerks und sind in der Regel maßgebend für die Bemessung einzelner Bauteile bzw. des gesamten Bauwerks. Bemessungen werden in der Regel konservativ und mit hohen Sicherheiten durchgeführt, um somit die Lastfälle der Extrembelastung abzudecken. Mit einer derartigen Materialplanung werden die eingesetzten Ressourcen jedoch in den seltensten Fällen vollständig ausgenutzt. Dies führt folglich zu Überdimensionierungen und hohen Tragreserven der Bauwerke. An dieser Stelle setzen die adaptiven Tragwerke an, um zum einen den zuvor genannten Problemen entgegenzuwirken und zum anderen mögliche Tragreserven besser zu nutzen. Die Anwendung von adaptiven Tragwerken kann somit materialsparendes und noch komplexeres Bauen sowie zielorientierte Nutzungen der Systeme/Tragwerke ermöglichen [4]. 

Definition adaptiver Systeme
Adaptive Systeme finden bereits in vielen Bereichen der Technik Anwendung. Vor allem in der Automobilbranche und der Luft- und Raumfahrt bieten adaptive Systeme ein großes Potenzial an Optimierungen. Selbstanpassende Flügelhinterkanten sorgen für einen geringeren Treibstoffverbrauch [7] und adaptive Fahrwerke bieten vergleichsweise höheren Komfort und mehr Sicherheit [1]. Durch ein ständiges Wechselspiel zwischen den äußeren Einwirkungen und den Widerständen des Tragwerks können vorher festgelegte Eigenschaften bzw. Ziele manipuliert werden. Daraus resultiert eine Optimierung des Systems. Eine aktive oder passive Manipulierung von vorher festgelegten Eigenschaften innerhalb des Tragwerks sorgt für eine Adaption. 

Systematik und Funktionsweise
Durch das Integrieren von multifunktionalen Bauteilen entstehen intelligente und dadurch anpassungsfähige Systeme. Infolge der Anpassungsfähigkeit können diese Systeme (oder – übertragen auf das Bauwesen – Tragwerke) auf unterschiedlichste Einwirkungen reagieren. Adaptive Systeme bestehen allgemein aus den folgenden drei Komponenten [7]: 

  • Regelung bzw. Steuerung: Regelungstechnik zur Generierung von Systemantworten 
  • Sensoren: zur Messung äußerer Einflüsse oder systeminterner Zustände (z. B. Dehnungsmessstreifen usw.)
  • Aktuatoren: Verbindungsglieder zwischen Regelung und technischem Prozess (z. B. pneumatische oder hydraulische Aktuatoren usw.)

Die Adaption und bereits erwähnte Wechselwirkung, die zur Anpassung an die Einwirkungen geschieht, werden durch einen Vorgang bzw. Algorithmus gesteuert. Abbildung 1 zeigt den grundsätzlichen Ablauf dieser Prozesse. 

Adaptive Systeme werden in drei unterschiedliche Kategorien unterteilt (aktiv, passiv, semi-aktiv). Dabei werden die Systeme anhand der Funktionsweise und der damit verbundenen notwendigen „Zugabe-Energie“ zur Aktivierung der jeweiligen Art des Systems eingeordnet. Während passive Systeme ohne Zuwendung externer Energien auskommen, muss sowohl bei aktiven als auch semi-aktiven Systemen Energie hinzugefügt werden, um den Adaptionsprozess in Gang zu setzen. Weiterhin unterscheidet sich ein passives System von den anderen beiden insofern, dass dieses ohne explizite Sensoren und eine aktive Steuerung auskommt. Beispiele für passive Systeme sind Feder-Masse-Systeme, die zur Tilgung von Schwingungen angewendet werden. Dabei wird die Adaption automatisch durch die entstehende Energie aus der Einwirkung, welche durch die Feder- Masse aufgenommen und umgewandelt wird, bewirkt. Es ist keine spezielle Sensorik oder Steuerung notwendig. Aktive und semiaktive Systeme werden vor allem eingesetzt, um Zustandsgrößen (z. B. astverteilung) oder Systemeigenschaften (z.B. Steifigkeiten) zu beeinflussen. Dabei bilden die semi-aktiven Systeme eine Kombination zwischen aktiven und passiven Systemen und lassen sich somit den sogenannten „Mischsystemen“ zuordnen. 

Smart Materials und ihre Eigenschaften Der Bereich der Smart Materials bildet ein eigenständiges Forschungsfeld innerhalb der Materialwissenschaften. Smart Materials sind Materialien, welche in der Lage sind, materialtypische Eigenschaften ausgelöst durch äußere Einflüsse (z. B. Temperaturänderung, Druckänderungen, Sonneneinstrahlung) zu verändern. Dabei werden die Materialien nach der Art ihrer veränderbaren Eigenschaften unterschieden und kategorisiert [2]. 

Smart Materials können sowohl als Sensoren als auch als Aktuatoren Anwendung finden. Vor allem formveränderbare und phasenbzw. steifigkeitsveränderbare Materialien können in der Baubranche zur Umsetzung adaptiver Tragwerke genutzt werden. Smart Materials können aber auch in der Fassadengestaltung zur Beeinflussung bauphysikalischer Eigenschaften von hoher Relevanz sein. So stellen die Fassade oder die Gebäudehülle nsichtlich des Energie- und Wärmestroms eines Gebäudes wichtige Funktionen dar. Durch die Anwendung von Smart Materials oder adaptiven Technologien können diese Ströme aktiv geregelt und die bauphysikalischen Eigenschaften positiv beeinflusst werden [6]. 

Neue Konzepte in der Forschung
Weltweit werden adaptive Tragwerke und Smart Materials erforscht. Das Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren der Universität Stuttgart hat seit 2017 gemeinsam mit dreizehn weiteren Instituten der Universität Stuttgart einen großen interdisziplinären Sonderforschungsbereich „Adaptive Hüllen und Strukturen für die gebaute Umwelt von morgen“ (SFB 1244) eingerichtet, der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wird. Ein zentrales Objekt des Projekts ist ein zwölfgeschossiges Hochhaus (Abb. 2), das der Evaluierung und der Demonstration der Forschungsergebnisse dient. 

Das Projekt beinhaltet die Erforschung von neuen Konzepten zur Umsetzung von Adaptivität im Bauwesen. Ein Ziel ist die Entwicklung neuer Gebäudehüllsysteme zur Optimierung bauphysikalischer Eigenschaften und folglich die Erhöhung des Nutzerkomforts. Auch die Untersuchung von Schwingungen und deren Dämpfung sind Teil des SFB 1244. Weiter werden Konzepte für die Integration der Adaptivität für den gesamten Entwurfsprozess entwickelt. Neben den bereits etablierten Charakteristika von Tragwerken (Steifigkeit, Duktilität, statische Unbestimmtheit usw.) muss auch für adaptive Tragwerke das Zusammenspiel zwischen Adaptivität und Ausfallsicherheit untersucht werden. Dazu ist es dringend notwendig, geeignete Berechnungs- wie auch Sicherheitskonzepte für einen möglichen Ausfall der Systeme zu entwerfen. Die gesamten Arbeiten innerhalb des Projekts unterliegen dabei den Aspekten der Reduzierung von Emissionen und Ressourcen und einer damit verbundenen möglichen Rezyklierbarkeit [4]. 

Fazit
Adaptive Tragwerke werden zukünftig ein wichtiger Bestandteil des Bauwesens sein. Auf Grundlage der Leichtbauweise können Ingenieurbauwerke mittels adaptiver Systeme in Zukunft noch ressourcenschonender und komplexer entwickelt und umgesetzt werden. 

Das Entwerfen, die Planung und die Umsetzung adaptiver Tragwerke sind facettenreich und vereinen unterschiedliche Spezialgebiete (Bauingenieurwesen, Maschinenbau, Informatik, Elektrotechnik, Materialwissenschaften usw.), sodass eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Fachbereiche unabdingbar sein wird. Diese Zusammenarbeit hat vor allem zum Ziel, Antworten für das Bauwesen auf ökologische und soziale Fragen unserer Zeit zu finden. Adaptive Tragwerke bieten einen grundlegenden und wichtigen Ansatz zur Bewältigung präsenter Probleme wie Klimawandel, Ressourcenknappheit, Umweltverschmutzung und rasches Bevölkerungswachstum. Die Forderung nach Nachhaltigkeit, Effizienz und Rezyklierbarkeit ist allgegenwärtig und gerade im Bereich des Bauens ein wichtiger Aspekt für unsere zukünftig gebaute Umwelt. Es ist ein klarer Wandel der Baubranche erkennbar, bei dem vor allem die Nachhaltigkeit die Legitimität vieler Entscheidungen im Entwurfsprozess darstellt. Dabei müssen die Nutzer solcher Gebäude und Bauwerk  hinsichtlich der Akzeptanz adaptiver Systeme sensibilisiert werden, um den zwingend erforderlichen Umschwung vollständig zu erreichen. 

Literatur

[1] Junk, A.: Adaptive Fahrwerke: Per Knopfdruck zum Sportwagen. In: Auto Service Praxis, Heft 3. München: Springer, 2017

[2] Köhnlein, J.: Smart materials – Intelligente Werkstoffe. In: Stahlbau 6/69. Berlin: Ernst & Sohn, 2000

[3] Sobek, W.: Die Zukunft des Leichtbaus: Herausforderungen und möglich Entwicklungen. In: Bautechnik 92, Heft 12. Berlin: Ernst & Sohn, 2015

[4] Sobek, W. et al.: Adaptive Hüllen und Strukturen – aus den Arbeiten des Sonderforschungsbereichs 1244. In: Bautechnik 98, Heft 3. Berlin: Ernst & Sohn, 2021

[5] Sobek, W. et al.: Adaptive Systeme. In: Stahlbau 69, Heft 7. Berlin: Ernst & Sohn, 2000 

[6] Roedel, C.; Petersen, J.-P.: Smart Material House – BIQ, Internationale Bauaustellung Hamburg, 2013 

[7] Weber, C-T.: Ein Beitrag zur optimalen Positionierung von Aktoren in adaptiven mechanischen Strukturen, Düsseldorf: VDI, 1998

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