Kaum eine andere Technologie regt die Fantasie der Menschen so stark an wie Virtual Reality. In dieser digitalen Welt verschmelzen Wunsch und Wirklichkeit zu einer Einheit. Hier stehen dem Nutzer jederzeit alle Informationen zur Verfügung, die er benötigt, um eine Situation korrekt einschätzen zu können. Gleichzeitig können in der virtuellen Wirklichkeit Projekte entstehen, die physikalisch eigentlich unmöglich wären und deren Realisierung noch Zukunftsmusik zu sein scheint.
Bereits Anfang der 1990er-Jahre erlebte die Simulation dreidimensionaler Welten ein erstes Hoch. Zum ersten Mal gab es in Heimcomputern dezidierte Grafikkarten für die Berechnung von 3D-Grafiken. Damit war der Weg frei für technische Peripherien wie Shutterbrillen, die selbst für private Haushalte erschwinglich waren. Infolge dieser Entwicklung öffneten bald darauf auch die ersten VR-Cafés, zum Beispiel am Adenauerplatz in Berlin. Dort konnten sich Spielerinnen und Spieler mithilfe extrem kostspieliger VR-Geräte in digitale Spiele teleportieren und dort fantastische Welten besuchen; zumindest, soweit die damaligen Rechner und deren Grafik – alles noch sehr bunt und auf Basis viel zu weniger Polygone – dies zuließen.
Beflügelt von solchen Toren in andere, virtuelle Welten entstanden idealisierte Vorstellungen von VR zur Erleichterung von Arbeitsprozessen in der nahen Zukunft. Beispielsweise im Film „Enthüllung“ nach dem Buch von Michael Crichton, in dem der Protagonist durch eine virtuelle Bibliothek spaziert, in der alle digitalen Unterlagen seines Unternehmens als Bücher dargestellt werden.
Solche futuristischen Ideen ließen sich jedoch mit der verfügbaren Rechenleistung der damaligen Zeit nicht umsetzen. Und so verschwand Virtual Reality wieder aus dem Arbeitsalltag, bevor sie dort überhaupt jemals richtig angekommen war.
Wegbereiter moderner VR
Anfang des neuen Jahrtausends, also gerade mal knapp zehn Jahre später, kam es zu einer Renaissance der digitalen Simulation von dreidimensionaler Wirklichkeit. Verantwortlich dafür waren neben stärkeren Rechnern und 3D-Grafikkarten vor allem Fortschritte in der Miniaturisierung von Bildschirmen. Diese konnten nun auch auf kleiner Fläche deutlich mehr Bildpunkte darstellen und waren trotzdem leicht genug, um als Teil eines Headsets zu funktionieren, ohne die Nackenmuskulatur zu stark zu belasten.
Erster Nutznießer der neuen Möglichkeiten war, wenig überraschend, das US-Militär. Bereits 2000 wurden dort erste Simulatoren in VR eingeführt, bei denen Headsets mit Full-HD-Auflösung zum Einsatz kamen.
In den folgenden Jahren fanden sich dann auch erste pragmatische zivile Anwendungen für die neue alte Technologie. Architekten machten ihre Entwürfe für Kunden begehbar, Küchenplaner ließen ihre Kunden fertige Kochlandschaften erforschen und Städtebauer probierten die Wirkung neuer Gebäude oder Denkmäler direkt in der virtuellen Abbildung der Realität aus, statt sich ausschließlich auf Zeichnungen, Modelle oder manipulierte Fotos zu verlassen.
Der Weg in den Alltag
Ab 2012, mit der Gründung von Occulus, nimmt der VR-Zug dann richtig Fahrt auf. Plötzlich schien VR eine reale und vor allem für alle erschwingliche Alternative zum klassischen Bildschirm zu sein. Darüber hinaus werden erste Prototypen von Datenbrillen gezeigt, die es erlauben, Informationen direkt in das Sichtfeld der Nutzer einzuspeisen, ohne sie dabei komplett von ihren sonstigen Sinneseindrücken zu trennen. Damit wird klar: Das Spielfeld der Möglichkeiten ist viel größer als geahnt. Es gibt eine Vielzahl von Varianten zwischen Realität und Virtual Reality: Es ist die Geburtsstunde von Augmented und Mixed Reality als Begriffe des täglichen Gebrauchs.
Dabei sind die Übergänge geradezu fließend. Ab wann aus Augmented Reality eine Virtual Reality wird, ist häufig Interpretationssache. Per Definition gilt VR als nahezu vollständige Immersion in eine digitale Simulation der Wirklichkeit, während es bei Augmented Reality eher um die Ergänzung der unmittelbaren Wahrnehmung mit zusätzlichen Informationen geht.
Datenbrillen retten Leben
Mittlerweile haben sich für die verschiedenen Ausprägungen von VR längst spezialisierte Applikationen herauskristallisiert. So gibt es in der Medizin, vor allem der Chirurgie, bereits eine Reihe von praktischen Anwendungen für Datenbrillen.
Unter anderem können Spezialisten Operationen an Patienten durchführen, ohne tatsächlich live vor Ort zu sein. Stattdessen nutzen sie Roboterarme, die ihre Handbewegungen exakt nachahmen. Durch die Datenbrille sehen sie das Geschehen so, als würden sie unmittelbar am OP-Tisch stehen, selbst wenn sie sich gerade auf einem anderen Kontinent befinden.
Auch Augmented Reality lässt sich in der Medizin effektiv einsetzen. Bei Eingriffen an Organen wie der Leber gab es bislang Herausforderungen, die immer wieder für Probleme sorgten, wie etwa die Position großer Blutgefäße. Beim Schneiden sind diese von außen nicht erkennbar, müssen aber schnell verschlossen werden, um starke Blutungen zu vermeiden. Die Lösung: Das Organ wird im MRT gescannt, wodurch die Blutgefäße sichtbar werden. Während der Operation kann sich der Chirurg über seine Datenbrille quasi einen Lageplan aller Blutgefäße auf das Organ projizieren lassen. Er sieht also bereits im Vorfeld, wo sich Arterien und Venen befinden, und kann entsprechende Vorkehrungen treffen.
Durchblick bei der Wartung
Aber auch oder sogar insbesondere, wenn es um mechanische Anwendungen geht, kann die Erweiterung der Realität um digitale Informationen beeindruckende Potenziale eröffnen. ThyssenKrupp stattete seine Fahrstuhltechniker bereits 2016 mit HoloLens-Brillen aus, um ihnen Informationen direkt bei der Arbeit einspielen zu können. So konnten sich die Mitarbeiter direkt am Objekt das dazugehörige Handbuch anzeigen lassen und die Seiten mittels Gesten „umblättern“, anstatt mit ölverschmierten Händen Bücher aus Papier zu nutzen.
Darüber hinaus gibt es aber noch eine weitere technische Besonderheit: Aufzüge sind extrem langlebig und bleiben über viele Jahrzehnte im Einsatz, ohne nennenswerte Veränderungen. Ersatzteile für solche modernen Relikte werden zu echten Raritäten. Altersschwache Bauteile können irgendwann nicht mehr gegen das originale Ersatzteil getauscht werden, stattdessen müssen die Techniker improvisieren und mit vorhandenem Material Lösungen finden. Doch zusammen mit den Maschinen altern auch die Experten, und dieses pragmatische Wissen droht verloren zu gehen. Die Lösung ist auch hier der Einsatz einer Datenbrille. Virtuell sind die erfahrenen Kollegen mit den jüngeren Technikern vor Ort verbunden und können diese unterstützen. Mittels eines Controllers können sie Objekte im Blickfeld virtuell hervorheben und Anweisungen für das Vorgehen geben.
In Kontakt bleiben dank VR
Gleich mehrfach konnte der weltweit agierende Maschinen- und Anlagenbauer SMS group aus Deutschland vom Einsatz innovativer Technologien profitieren. Das Unternehmen entschied sich für den Einsatz einer Software für die digitale Kommunikation und Prozessplanung beim Bau zweier Gasometer in Russland.
Die Software bietet WeAre an, ein junges Berliner Startup. Dadurch sind Konferenzen in der virtuellen Realität möglich. Und das mit einer entscheidenden Besonderheit: Es können dreidimensionale Modelle – per Klick aus herkömmlichen CAD-Dateien generiert – mit in die Konferenz genommen werden, vom kleinsten Motor bis zur mehrere hundert Meter langen Produktionsstraße.
Man trifft sich mittels VR-Brille gewissermaßen direkt auf der Baustelle, mitten im Projekt. Maschinen, Produktionshallen, Generatoren – alles wird realitätsgetreu und in korrekten Größenverhältnissen dargestellt. Die Teilnehmer sind als Avatare sichtbar und können sich frei in der Simulation bewegen, um so das Projekt oder vielmehr den Planungsstand sprichwörtlich von allen Seiten zu begutachten.
Damit lassen sich Konstruktionsfehler bereits in der Planung erkennen und vor dem eigentlichen Bau vermeiden – ein Riesenvorteil gegenüber traditionellen zweidimensionalen Bauplänen. In virtualisierten CAD-Modellen werden Probleme sichtbar, die auf dem Papier und auf dem zweidimensionalen Monitor unsichtbar bleiben. Tatsächlich erzählen die beteiligten Ingenieure mit Begeisterung davon, Fehler aus dem Augenwinkel erkannt zu haben – ganz so, als wären sie auf einer realen Baustelle unterwegs. Bei einem solchen virtuellen Rundgang fiel auch ein Halteseil aus Stahl auf, das mitten durch eine eigentlich begehbare Plattform lief. Wäre das so gebaut worden, hätte dort niemand stehen oder gar gehen können.
Allein dieser eine nicht gemachte Fehler sparte bei dem Projekt der SMS group rund 80.000 Euro Fehlerkosten und drei Wochen Zeit ein. Eine stattliche Summe, die sämtliche Investitionskosten in Hardware- und Softwarelizenzen um ein Vielfaches aufwiegt.
Technisches Hilfsmittel in jeder Planungsphase
Die eingesetzte Software erwies sich aber auch für die Kommunikation während der Bauphase als absoluter Glücksgriff. Die regelmäßigen Absprachen zum Projektfortschritt drohten, bedingt durch die Coronapandemie und die damit verbundenen Reisebeschränkungen, erheblich schwieriger zu werden. Die Errichtung von so großen und komplexen Objekten wie einem Gasometer erfordert eine kontinuierliche Kommunikation innerhalb der und zwischen den Teams. Darüber hinaus müssen Lieferanten und Subunternehmen gesteuert und eingewiesen werden. Alles Prozesse, die für gewöhnlich eine physische Präsenz aller Beteiligten unverzichtbar macht. Aber Not macht erfinderisch!
Da in der virtuellen Realität analoge Erreger kein Thema sind, konnte der Kommunikationsfluss folgerichtig über die gesamte Zeit aufrechterhalten werden. Und die digitalen Treffen ohne Ansteckungsrisiko waren auch emotional eine echte Erleichterung für alle Beteiligten.
Die SMS group setzte das neue technische Hilfsmittel konsequent in jeder Planungsphase ein. Man traf sich zur virtuellen Konferenz, die aber, dank der Einbindung von CAD-Modellen, trotzdem quasi direkt am Projekt stattfand. Gemeinsam konnten dann alle Details begutachtet oder über Abweichungen und Verbesserungen diskutieret werden – konzentriert, fokussiert und dank VR-Brille ohne Ablenkungen durch äußere Einflüsse, wie beispielsweise das Smartphone oder eingehende Mails.
Die voranschreitende Digitalisierung lässt auch den Datenhunger in der Industrie steigen. Schon vor der Pandemie gab es Aussagen von großen Industrieunternehmen über einen signifikanten Anstieg des verbrauchten Datenvolumens. Bis zu 40 % mehr als in vergleichbaren Zeiträumen schlüpften durch die Leitungen. Die Pandemie dürfte diesen Effekt noch deutlich verstärkt haben. Aber jede Krise bietet auch Chancen, und so sanken in Unternehmen, die innovative Tools zum Einsatz bringen, die Reisekosten ganz erheblich. Projekte wurden weiter vorangetrieben, auch wenn Reisen erschwert oder unmöglich war, die Pandemie wirkte als Katalysator für technischen Ersatz zu physischen Meetings. Die Mitarbeiter flogen weniger und benötigt entsprechend auch seltener Hotelaufenthalte – wenn die Hotels überhaupt offen und buchbar waren. Ein Learning, das auch nach der Pandemie seine Daseinsberechtigung hat, schlägt sich dieser Verzicht auf Termine vor Ort doch zusätzlich auch positiv in der Ökobilanz der Unternehmen nieder. Ein guter Grund also, um das in den vergangenen anderthalb Jahren eingeübte Verhalten auch nach Impfungen und Eindämmung der Pandemie da, wo es geht, beizubehalten.
Es hat sich gezeigt, dass viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dankbar waren, dass sie weniger reisen mussten und mehr von zuhause arbeiten durften.
Die Zukunft wird virtueller
Der Einsatz von Augmented und Virtual Reality hat sich bereits in der Gegenwart mehr als bewährt. In der Folge werden sich weitere Anwendungsoptionen herauskristallisieren, die von diesem Potenzial Gebrauch machen. Und damit entstehen dann auch neue Berufsbilder.
Zum Beispiel beim Einsatz von Drohnen in der Logistik. Fehlende oder beschädigte Hausnummern können dazu führen, dass autonome Drohnen mit limitierter Intelligenz Pakete nicht zustellen können. Hier ist dann die Unterstützung durch den Menschen gefragt. Diese könnten mit Hilfe einer Datenbrille und eines Controllers die Drohne manuell steuern und so sicherstellen, dass sie sich an der richtigen Adresse befindet.
In Werkstätten könnten Reparaturabläufe automatisiert und direkt in das Sichtfeld der Datenbrille eingespielt werden, wobei dann sogar jede Mutter und jede Klammer farblich gekennzeichnet werden kann, um Fehler zu vermeiden.
Die Zukunft hat längst begonnen, und diese VR-Welle wird nicht ins Stocken geraten oder einfach wieder verschwinden, wie das Anfang der 90er-Jahre passiert ist. Erweiterte und neue Realitäten bestimmen den Alltag all jener, die auch zukünftig ressourcenschonend und effizient arbeiten wollen.