Passanten achten selten auf die Straßen oder Brücken, über die sie gerade laufen. Das ist in Ulm anders. Durch Klangkunst erleben sie, wie eine Brücke in der Ulmer Altstadt über die „Kleine Blau“ unweit des Münsters auf sie reagiert. Sie hören ihre eigenen Schritte, und hören, wie die Brücke bei unterschiedlicher Belastung oder Temperaturveränderungen klingt. So macht das Stuttgarter Atelier für auditive Kommunikation „Klangerfinder“ ein Forschungsprojekt spielerisch und sinnlich erfahrbar – direkt vor Ort und auch aus der Ferne per Internet unter www.flachsbruecke-ulm.de.
Möglich wird das mit Hilfe von 42 Sensoren, die in der Brücke verbaut sind. Sie dienen in erster Linie der Materialforschung für das EU-Projekt „Smart Circular Bridge“ und seinem neuartigen Werkstoff aus Flachsfasern und einem bio-basierten Polyesterharz. Die Sensoren überwachen das Bauwerk und liefern genaue Daten über den Werkstoff im täglichen Einsatz. Auf Basis der Sensordaten und mathematischen Berechnungen übersetzen die „Klangerfinder“ die Schritte von Passanten in unterschiedliche Töne. Mit ihrem Soundkonzept laden sie dazu ein, die Brücke als Musikinstrument zu nutzen und die Auswirkungen von Gewicht und Temperaturveränderungen in Echtzeit zu hören.
Traditioneller Flachs als innovativer Baustoff
Auf der Suche nach schnell nachwachsenden Rohstoffen für die Bauwirtschaft gerät hier ein altes Material wieder in den Blickpunkt: Flachs ist eine der ältesten Kulturpflanzen der Welt und gilt als äußerst strapazierfähig und reißfest. Aus den Fasern der Pflanze sowie einem Polyesterharz mit 25-prozentigem Bio-Anteil haben Forschende in den Niederlanden einen hochstabilen Verbundwerkstoff entwickelt.
Der Flachsfaserverbund ist in seinen Eigenschaften Stahl oder Beton ähnlich, aber flexibler einzusetzen. Die Kombination aus Festigkeit und Steifigkeit bei gleichzeitig geringem Gewicht verleiht dem korrosionsbeständigen Bioverbundwerkstoff viel Potenzial im Bauwesen. Die Brücke in Ulm wiegt lediglich fünf Tonnen, kann aber 24 Tonnen tragen. Die leichte Bauweise und die nachwachsenden Rohstoffe sorgen für einen verkleinerten CO₂-Fußabdruck.
Erste befahrbare Brücke aus dem neuen Baustoff
Was mit bio-basierten Baustoffen schon heute möglich ist, zeigt das EU-Projekt „Smart Circular Bridge“. Das Projekt wird von der Technischen Universität Eindhoven in Zusammenarbeit mit 14 Projektpartnern geführt und erforscht den Bioverbundwerkstoff für einen kreislauforientierten Brückenbau. Nach ersten Versuchen in den Niederlanden mit Fußgängerbrücken entstand in Ulm als zukunftsweisender Projektabschluss die erste befahrbare „Smart Circular Bridge“.
Für diese Brücke wurden das Verbundmaterial und die Konstruktion weiterentwickelt. Als weltweit erste Brückenkonstruktion besteht die Brücke vollständig aus Flachsfasern, die mit einem bio-basierten, ungesättigten Polyester verstärkt sind. Sie ist für Fahrzeuge bis zu 12 Tonnen ausgelegt und kann daher auch von Wartungsfahrzeugen befahren werden. Das Projekt führt zwei bedeutende Innovationen ein: die Skalierung von Bioverbundwerkstoffen auf eine funktionale Verkehrsbrücke und die wirtschaftliche Verwendung des bio-basierten Polyesterharzes.
Diese Kombination positioniert die Brücke als Pionier für bio-basierte Materialien in der Infrastruktur. Mit Blick auf die Kreislaufwirtschaft wird im EU-Projekt „Smart Circular Bridge“ auch untersucht, welche Optionen sich für den Baustoff ergeben, wenn die Brücken nach vielen Jahrzehnten das Ende ihrer Nutzungsdauer erreicht haben.
Vakuuminjektion mit bio-basiertem Harz
Die Brücke besteht aus dem erneuerten Unterbau, einer Brückenplatte und dem beidseitigen Brückengeländer. Dessen ausgefallenes Design nimmt Bezug auf das Geländer der ersten „Smart Circular Bridge“ im niederländischen Almere und geht zurück auf die Architektin Hanaa Dahy aus der Stuttgarter Forschungsgruppe „Biobasierte Materialien und Stoffkreisläufe in der Architektur" (BioMat): Ein per Roboter kunstvoll gewickeltes Geflecht aus Flachsfasern wird von Edelholzpfosten gestützt, die auch den Handlauf tragen. Das Edelholz stammt von einer alten, abgebrochenen Brücke in Ulm und findet hier eine neue Nutzung.
Die freitragende Fußgänger- und Radfahrerbrücke mit einer Spannweite von 8,5 Metern hat eine Breite von 5,34 Metern und eine Gesamtlänge von 9 Metern. Die Brücke wiegt weniger als 100 kg/m² und ist damit konkurrenzfähig zu glasfaserverstärkten Konstruktionen, aber deutlich leichter als eine vergleichbare Stahl- oder Betonbrücke. Der eigentliche Brückenkörper besteht aus unterschiedlich gestalteten Einzelkomponenten. Für das Sandwich-Deck wurden Flachsfasermatten mit Vierkantbalken aus recyceltem PET-Schaum belegt und mit flüssigem bio-basierten Polyesterharz im Vakuum verpresst und verklebt. Die Bodenplatte sowie acht Hauptträger und drei Querspanten in U-Form wurden ebenfalls aus Flachsfasermatten hergestellt und mit dem Harz vergossen. Nach der Herstellung wurden die Einzelteile miteinander zu einem Brückenkörper zusammengesetzt und verklebt. Ein robustes Beschichtungssystem sorgt für den Schutz der Flachsfasern und sichert deren Langlebigkeit und Haltbarkeit.
Live Dashboard der Ulmer Brücke
In dem EU-Forschungsprojekt wird der neue Flachsverbundbaustoff an zwei Brückenbauten erprobt und das Material in seinem Verhalten unter realistischen Einsatzbedingungen beobachtet. Ein Monitoring-System mit intelligenten Glasfaser- und Bewegungssensoren in der Brückenkonstruktion liefert Informationen über Verformungen und Umwelteinflüsse in Echtzeit. Die Auswertung der Daten erfolgt mit Hilfe künstlicher Intelligenz, um Muster im Materialverhalten zu erkennen. Die Messdaten können auf einer öffentlichen Webseite eingesehen werden.