Vor gut einem Jahr „knallte“ es in der HOAI-Welt gewaltig, die Nachbeben sind noch immer nicht vorbei. Nachdem der EuGH die Verbindlichkeit der Mindest- und Höchstsätze für europarechtswidrig erklärt hatte,1 ist die Reichweite dieses Urteils auch heute noch nicht geklärt. Das gilt insbesondere für die Frage, ob sich die EuGH-Entscheidung auch auf sog. Alt-Fälle auswirkt, mithin ob eine Unterschreitung des Mindestsatzes bzw. eine Überschreitung des Höchstsatzes bei einem Vertrag, der vor der EuGH-Entscheidung abgeschlossen wurde, geltend gemacht werden kann oder nicht.
Unterschiedliche Ansichten bei den Oberlandesgerichten
Nach Ansicht der Oberlandesgerichte in Hamm2, München3, Hamburg4 und Dresden5 sowie des Kammergerichts6 ist das Urteil des EuGH (nur) von staatlichen Stellen zu beachten. Für den einzelnen Unionsbürger hingegen gehe von dem Urteil des EuGH keine Rechtswirkung aus, weil eine europäische Richtlinie keine unmittelbaren Verpflichtungen für den einzelnen Unionsbürger begründen könne. Die Oberlandesgerichte in Celle7, Düsseldorf8 und Schleswig9 hingegen wollen die Europäische Dienstleistungsrichtlinie auch auf innerstaatliche Sachverhalte anwenden. In der Folge hätten die nationalen Gerichte zu prüfen, ob und, bejahendenfalls, inwieweit nationales Recht im Widerspruch zum EU-Recht stehe. Im vorliegenden Fall sei dies durch das Urteil des EuGH bereits verbindlich geschehen, weshalb die HOAI-Mindest- und Höchstsätze in einem laufenden Verfahren nicht mehr berücksichtigt werden können.
Erhebliche Bedeutung auch im Vergaberecht
Nicht nur im Vertragsrecht, sondern auch im Vergaberecht gewinnt die Entscheidung des EuGH enorme Bedeutung. Nach Ansicht der VK Bund10 darf die Einhaltung des Mindest- und Höchstsatzes nicht mehr als entscheidungserhebliches Zuschlagskriterium verwendet werden. Ein Angebot, dessen Preis außerhalb der HOAI-Vorgaben liegt, darf jedenfalls aus diesem Grund nicht mehr ausgeschlossen werden. Die VK Thüringen ist allerdings der Ansicht, dass ein entsprechender Verstoß der Vergabestelle vom Bieter gerügt werden muss.11
Klärung durch den BGH? Fehlanzeige!
Die Anzahl der unterschiedlichen Entscheidungen und der hiergegen beim Bundesgerichtshof anhängigen Revisionen belegen die enorme Bedeutung der offenen Fragen. Mit großer Spannung wurde daher auf einen Verhandlungstermin vom 14.05.2020 geschaut, der Klarheit hätte bringen können. Der BGH hat die Entscheidung jedoch vertagt und dem EuGH Fragen zur Anwendbarkeit bzw. Reichweite der einschlägigen Dienstleistungsrichtlinie vorgelegt.12 Immerhin ließ der BGH durchblicken, dass die Dienstleistungsrichtlinie nach seiner Ansicht keine unmittelbare Wirkung auf sog. Alt-Fälle zwischen Privatpersonen entfaltet, dass die Mindest- und Höchstsätze der HOAI für solche Fälle also weiterverbindlich sind.
Aussichten
Staatliche Stellen können die Einhaltung der Mindest- und Höchstsätze gemäß HOAI nicht mehr fordern. Zwischen Privaten dürfte diese Regelungen jedoch weiterhin anwendbar und – solange die HOAI (insoweit) nicht verändert wird – im Rahmen der Vertragsautonomie auch vereinbar sein. Nach wie vor unklar ist allerdings die Behandlung von Alt-Fällen.