Wir haben endlich ein Bauministerium im Bund. Die neue Bauministerin Klara Geywitz erklärte bereits in einem Interview, dass wir „bauen, bauen, bauen“ müssten, mindestens 400.000 Wohnungen pro Jahr. Doch ist das überhaupt machbar? Und warum liegt beim Thema Bauen in der bundesweiten Wahrnehmung und Berichterstattung der Fokus in erster Linie immer nur auf der Wohnungswirtschaft? Wer als Bauschaffender aufmerksam den Koalitionsvertrag gelesen hat, mag sich wundern, wer die zahlreichen anderen Aufgaben des Bausektors beheimatet, die zwar gesellschaftlich relevant sind, aber keinen Eingang in das umfangreiche Werk gefunden haben. Ziel dieses Meinungsbeitrags ist es daher, noch einmal dafür zu sensibilisieren, dass im Ressort „Bauen“ weitaus mehr steckt, als die Reduzierung auf Hochbauprojekte impliziert.
Die Koalitionäre geben im Koalitionsvertrag der Gestaltung der gebauten Umwelt einen umfassenden Raum: 178 Seiten „Mehr Fortschritt wagen“ liegen vor mir. Ich möchte systematisch und effizient vorgehen und suche das Kapitel „Bauen“– das es nicht gibt. Unter der Kapitelüberschrift „Respekt, Chancen und soziale Sicherheit in der modernen Arbeitswelt“ finde ich versteckt als letzten Abschnitt „Bauen und Wohnen“. Und ich frage mich, warum „Bauen und Wohnen“ im Koalitionsvertrag als Appendix von „Respekt, Chancen und soziale Sicherheit“ auftaucht. Versteht sich das neue Bauministerium zunächst als Ministerium für das Wohnen?
Unter den Stichwörtern Wohnen, Stadtentwicklung und Städtebauförderung, serielles Bauen, Digitalisierung und BIM, Baulandmobilisierung, Klimaschutz im Gebäudebereich, Kreislaufwirtschaft, Bewältigung von Starkregenereignissen etc. bildet sich nur ein kleiner Teil der vor uns liegenden Aufgaben im Bereich der Bauwirtschaft ab.
Wo ist die Transformation der Bauwirtschaft thematisiert?
So kurzsichtig kann der Vertrag nicht aufgesetzt worden sein, denke ich mir, und arbeite den gesamten Koalitionsvertrag akribisch durch, wobei ich alle Stellen farblich markiere, die aus meiner Sicht mit „dem Bauen“ zu tun haben.
So identifiziere ich über fast alle Kapitel hinweg Hunderte von Bau-Mosaiksteinen, die ich systemisch zu einem Bau-Mosaikbild zusammenzusetzen versuche. Dabei vervollständigt sich das mir vorschwebende Bild aber leider nicht. Was sich hingegen verfestigt, ist mein Eindruck, das neu geschaffene und lange von den „am Bau“ Tätigen gewünschte Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen stelle in erster Linie die Belange des Wohnens in den Vordergrund.
Mein Fazit ist, dass die Komplexität der baulichen Gestaltung der Umwelt weder erfasst, noch in Worte gefasst, geschweige denn zu Papier gebracht wurde.
Wie wollen wir die Klimaziele erreichen, wenn auf der politischen Entscheidungsebene diese gewaltige Aufgabe nur in Bruchstücken erfasst wird, deren Gelingen ganz wesentlich von der Transformation der Bauwirtschaft abhängt?
Letztere ist der größte Wirtschaftszweig in Deutschland, doch im Koalitionsvertrag wird lediglich die Transformation der Automobilindustrie thematisiert – das ist viel zu kurz gedacht. Ich erkenne, dass wir „Bauleute“ im Vergleich mit der Automobilindustrie eine bemerkenswert unzureichende Lobbyarbeit in Berlin machen. Und: In den Parlamenten finden sich kaum Architektinnen und Ingenieure, die ihren Sachverstand und Substanzielles einbringen könnten.
Risiko-Resilienz-Strategie für nachhaltige Katastrophenvorsorge
Wie können wir bei diesem Defizit einen Wissenstransfer in die Politik realisieren?
Es wird im Koalitionsvertrag auf die UN-Nachhaltigkeitsziele 2030 verwiesen, nicht aber auf die UN-Sendai-Ziele 2030 zur Katastrophenvorsorge, die unbedingt gemeinsam betrachtet werden müssen, weil es dabei auch Zielkonflikte gibt. Im Koalitionsvertrag wird nur der Hochwasserschutz benannt – die Ahrtal-Katastrophe steckt „der Politik“ noch in den Gliedern. Es fehlt aber die ganzheitliche Betrachtung, dass durch den Klimawandel auch Extremstürme wie Tornados, Dürre, Hitze, Hagel etc. in nicht gekanntem Ausmaß auftreten, worauf wir selbstverständlich baulich reagieren müssen. Auch hier fällt mir auf, wie kurzfristig situationsbezogen die Entscheider reflektieren. So lässt sich die Katastrophenvorsorge nicht nachhaltig umsetzen. Allein die baulichen Fragestellungen in Bezug auf die Bewältigung von Naturkatastrophen sind äußerst komplex und können nur ressortübergreifend gelöst werden.
Vor diesem Hintergrund, aber auch in Anbetracht alternder baulicher (kritischer) Infrastruktur, müssen wir Sicherheit neu denken. Wir benötigen eine gekoppelte Risiko-Resilienz-Strategie, damit wir nicht plötzlich vor einer nicht mehr zu bewältigenden Bau-Katastrophe stehen. Benötigen wir immer erst ein „Ahrtal“ oder „Corona-Radikalisierungen“, damit in einem Koalitionsvertrag Begriffe wie „Klimaresilienz“ und „Resilienz der Sicherheitsbehörden“ Eingang finden? Bisher kenne ich nur Experten des Bauwesens, die Resilienz mathematisch erfassen und Resilienzmodelle erarbeiten. Nur über Resilienz (qualitativ) zu reden, hilft uns nicht weiter.
Wird jetzt schlecht gebaut, schaffen wir uns viele Probleme
Es sollen jährlich 400.000 neue Wohnungen gebaut werden, also etwa 100.000 mehr, als 2020 errichtet wurden. Schafft es die deutsche Bauwirtschaft, ca. 60 Milliarden Euro jährlich zusätzlich zu verbauen? Schon jetzt fehlt Bauland (Zielkonflikt Flächenversiegelung, Sturzfluten), Genehmigungsbehörden sind überfordert, Fachkräfte fehlen, die deutsche Bauwirtschaft arbeitet bereits „am Anschlag“, Roh- und Baustoffe sowie Bauteile sind Mangelware. Dadurch sind Bauland- und Baupreise in schwindelerregende Höhen gestiegen. Und das, was wir jetzt „schnell“ bauen, steht vermutlich 100 bis 200 Jahre.
Die Stadtsoziologie lehrt uns, dass, wenn wir jetzt „Mist bauen“, wir uns nachhaltig gesellschaftliche Probleme in den Quartieren schaffen – erst prägen wir die Quartiere, dann prägen sie uns. Darauf weist die Bundesstiftung Baukultur immer wieder hin. Wie können und wollen wir gesund wohnen und arbeiten? Billig bauen durch Senken von Standards, wie z. B. beim Lärmschutz gefordert? Wer schon mal in einer schlecht akustisch isolierten Wohnung gewohnt hat, weiß, dass Lärm krank macht. Die Medizin hat das schon längst bestätigt.
Der Koalitionsvertrag befasst sich im Grunde in erster Linie mit dem Wohnen. Aussagen zu (kritischen) Infrastrukturen, Verkehrsin-frastrukturen, Infrastrukturen der ober- und unterirdischen Ver- und Entsorgungssysteme, wassersensible Stadt- und Infrastruktursysteme und weitere Bau-Themen, wie den gesamten Ingenieurbau und den baulichen Bevölkerungsschutz vor Naturkatastrophen, sucht der Interessierte vergeblich. Das Bauen wird quasi auf den Wohnbau reduziert und dadurch repräsentiert das Bauministerium zunächst einmal das Ressort Hochbau. Da liegt letztendlich auch die Crux: Denn die gesamte Bauwirtschaft verursacht weltweit derzeit noch ca. 40 % des CO2-Ausstoßes und ca. 50 % des Abfallaufkommens.
Eine Schlüsselfunktion bei künftigen Herausforderungen
Wir Bauschaffende gestalten maßgeblich die Gesellschaft mit unserem Beitrag zur gebauten Umwelt. Wäre diese Tatsache in den entsprechenden politischen Gremien bekannt und auch verankert, hätte sie sicherlich erheblich Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden – und einem Ministerium für „den Bau“ fiele somit eine entsprechend tragende Schlüsselrolle inmitten zahlreicher Ministerien zu.
Es wäre fatal, wenn der Eindruck entstünde, dass den Bauministerien im Bund und den Ländern keine tragende Funktion zufällt. Wenn die Handlungsbemächtigten dieser Legislaturperiode die enorme Bedeutung der Bauwirtschaft ausblenden, steht zu befürchten, dass wir die CO2-Ziele verfehlen.
Was können wir nun tun, um die Nachhaltigkeitsziele bis spätestens 2045 zu erreichen? „Der Bau“ ist auch hier der Schlüssel zum Erfolg. Meine Empfehlung wäre ein „Expertenrat digitale und ökologische Transformation der Bauwirtschaft“, der unserer Bundesregierung die baurelevanten Stellen im Koalitionsvertag, ihre Interdependenzen und weitere Herausforderungen aufzeigt und eine systemische Analyse erarbeitet. Ohne einen derartigen Expertenrat werden wir die Herausforderungen der Bauwirtschaft und die Nachhaltigkeitsziele vermutlich nicht meistern.
In Bayern haben wir nun einen derartigen Expertenrat. Dieser Runde Tisch zur „Beschleunigten digitalen und ökologischen Transformation der Bauwirtschaft in Bayern“ verfasst aktuell eine Regierungsvorlage. Alle wesentlichen Akteure der Bauwirtschaft arbeiten gemeinsam verbands- und kammerübergreifend mit Vertreterinnen und Vertretern des Bauministeriums an diesem Papier. Ich finde es wichtig, neben den technischen Arbeitsgruppen auch eine Gruppe zu haben, die sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Transformation beschäftigt. Hier tauschen sich vor allem Nicht-Techniker, also Politikwissenschaftler, (Stadt-)Soziologen, Juristen und Ethiker aus. Es war mir auch wichtig, junge Menschen einzubinden, Vertreterinnen und Vertreter von Architects for Future (A4F) und aus dem Kammerarbeitskreis „Junge Ingenieure“. Ihre Aufgabe beschränkt sich nicht auf die bloße Mitarbeit in einer Arbeitsgruppe, sondern sie sind auch verantwortlich im „Lenkungsgremium“ vertreten. Selten habe ich einen solchen Enthusiasmus verspürt wie bei der Arbeit in diesem Expertenrat, wo „alte Hasen“ der Bauindustrie gemeinsam und auf Augenhöhe mit einer Vertreterin von A4F eine Arbeitsgruppe leiten.
Ich wünsche mir etwas Vergleichbares für den Bund. Damit wir die (globalen) Herausforderungen generationenübergreifend lösen. Wir sehen einem Austausch und einem offenen Dialog auch auf Bundesebene gespannt entgegen und freuen uns auf eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Politik und Baubranche – zum Wohl unserer Gesellschaft.