Von Nicholas Cumins, CEO, Bentley Systems
Bei der Gründung von Bentley im Jahr 1984 erkannte Keith Bentley das Potenzial des PCs und leitete damit einen bedeutenden Paradigmenwechsel im Bereich der Entwicklung von Ingenieursoftware ein. Für Keith war der PC eine Möglichkeit, CAD-Software für mehr Menschen zugänglich zu machen. Mit MicroStation lieferte Bentley Ingenieurinnen und Ingenieuren die Werkzeuge für effizienteres und präziseres Arbeiten und veränderte damit die Art und Weise, wie Infrastruktur entworfen wurde.
Mit der Entwicklung der Technologie veränderte sich auch unser Entwurfsansatz. Wir sind von der 2D- zur 3D-Modellierung übergegangen, wodurch Möglichkeiten entstanden, um technische Projekte realistischer zu visualisieren und Probleme vor Baubeginn besser zu lösen. Diese Entwicklung wurde auch durch die Anwendungen von Bentley vorangetrieben, mit denen immer komplexere Entwürfe im Ingenieurbereich realisiert werden konnten.
In den Anfangsjahren der Internet-Ära veränderten ProjectWise und AssetWise die Art und Weise, wie Infrastrukturprojekte und Anlagen verwaltet wurden. Diese webserverbasierten Lösungen ermöglichten die nahtlose Zusammenarbeit von Teams, da Mitarbeitende und Interessengruppen in Echtzeit Zugang zu Projekt- und Anlagendaten erhielten, egal wo sie sich befanden. Dies verbesserte die Koordination und sorgte dafür, dass alle mit denselben, genauen Informationen arbeiten konnten.
Schließlich folgte die vierte Dimension, die Zeit, mit der 4D-Baumodellierung. Mit SYNCHRO konnten Fachleute im Ingenieurbereich den Bauablauf eines Projekts planen und modellieren und dieses Modell nutzen, um den Fortschritt von Anfang bis Ende zu verfolgen und so sicherzustellen, dass die Bauarbeiten im Zeit- und Kostenrahmen blieben.
Mit iTwin und digitalen Zwillingen sind wir sogar noch einen Schritt weiter gegangen. Digitale Zwillinge, also dynamische Nachbildungen von Infrastrukturanlagen, die kontinuierlich mit realen Daten aktualisiert werden, ermöglichen es Ingenieurteams, Anlagen über den gesamten Lebenszyklus hinweg zu überwachen, zu verwalten und zu optimieren und ihre Leistung im Laufe der Zeit zu erhalten oder sogar zu verbessern.
Seit 40 Jahren nutzt Bentley erfolgreich technologische Paradigmenwechsel wie PC, Internet, Cloud-Computing und digitale Zwillinge, um Software für die Infrastrukturtechnik entscheidend voranzubringen. Und heute stehen wir an der Schwelle zum nächsten Paradigmenwechsel: künstliche Intelligenz.
KI ist der Paradigmenwechsel unserer Generation
KI verändert jede Branche, auch die Infrastruktur. Der schiere Umfang der Daten, die vom Entwurf über den Bau bis zum Betrieb erstellt werden, macht die Infrastruktur zu einem der wichtigsten Bereiche, in denen KI große Auswirkungen haben kann.
Bei Bentley investieren wir seit mehreren Jahren in KI. Wir haben ihr Potenzial schon früh erkannt und sie erfolgreich in Anwendungsfällen im Anlagenbetrieb eingesetzt, die Computersehen und maschinelles Lernen umfassen. Dank KI-gestützter Erkenntnisse können Betreiber vorhersagen, wann eine Wartung erforderlich ist, bevor es zu Störungen kommt. KI-Agenten analysieren digitale Zwillinge von Infrastrukturanlagen wie Brücken, Straßen, Dämmen oder Wassernetzen, um Probleme zu erkennen und Präventivmaßnahmen zu empfehlen, die kostspielige Ausfälle oder Sicherheitsrisiken vermeiden.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Straßeninstandhaltung. Wir nutzen Crowdsourcing-Daten und wenden KI an, um Probleme zu erkennen, bevor diese eskalieren. Wir müssen nicht mehr warten, bis ein Problem auftritt, sondern können es vorhersehen und beheben, bevor es den Verkehr stört.
Wenn wir einen Schritt zurückgehen, zeigt sich, dass KI auch in der Entwurfsphase des Lebenszyklus von Infrastruktur ein enormes Potenzial besitzt. In der Entwurfsphase kann KI wiederkehrende Aufgaben automatisieren, z. B. die Dokumentation und Kommentierung, sodass sich das Ingenieurteam auf höherwertige Tätigkeiten konzentrieren kann. Und KI kann auch eine unterstützende Rolle spielen, etwa durch Vorschläge für Verbesserungen, die den Entwurf effektiver machen, z. B. kohlenstoffeffizienter, und die besser für zukünftige Herausforderungen geeignet sind.
Letztendlich wird die wahre Stärke von KI an ihrer Fähigkeit gemessen, die Ergebnisse zu verbessern – nachhaltigere Entwürfe, schnelleres und sichereres Bauen sowie zuverlässigere Infrastruktursysteme. Wenn wir in die Zukunft blicken, erscheinen uns die Möglichkeiten endlos.
Aber um zu verstehen, was morgen möglich ist, müssen wir uns über den heutigen Zustand unserer Branche im Klaren sein.
Kein Mangel an Daten, aber vergleichsweise wenige Einblicke
Heute steht die Infrastruktur vor noch nie dagewesenen Herausforderungen. Weltweit steigt die Nachfrage nach besserer, widerstandsfähigerer Infrastruktur – sei es zum Ausbau der Energienetze, zur Modernisierung der Verkehrsnetze oder zur Nachrüstung bestehender Strukturen, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Dies sind enorme Vorhaben, die Investitionen in Billionenhöhe und jahrzehntelange Anstrengungen erfordern.
Trotz der dringenden Nachfrage gibt es nicht genügend Fachkräfte, um diesen Bedarf zu decken. Die Arbeitsrückstände wachsen, und die Projekte häufen sich. Der Mangel an qualifizierten Fachkräften im Ingenieurwesen und technischen Bereich vergrößert die Kluft zwischen dem, was benötigt wird, und dem, was realistischerweise geleistet werden kann.
Zwar gibt es einen Mangel an Fachkräften, aber keinen Mangel an Daten. Und darin liegt das größte Paradoxon unserer Branche. Wir haben so viele Daten, aber vergleichsweise wenige Erkenntnisse. So viele Anlagen erzeugen jeden Tag Gigabytes an Daten – sei es von Sensoren auf einer Brücke, einem Versorgungsnetz oder einem anderen System. Aber nur ein kleiner Teil dieser Daten wird jemals analysiert. Einige schätzen, dass 10 % der gesammelten Daten verwendet werden, andere wiederum sprechen von nicht einmal so viel. Die Realität sieht so aus, dass die Kontrolle über die Daten an erster Stelle stehen muss, wenn die Vorteile der KI oder anderer neuer Technologien ausgeschöpft werden sollen.
Anlagenanalytik
Der Schwerpunkt der nachhaltigen Entwicklung muss sich auf die Anpassung und Optimierung der bereits vorhandenen Infrastruktur verlagern. Über 95 % der Infrastruktur, die bis 2030 in Betrieb sein wird, ist bereits heute vorhanden. Die Herausforderung besteht nicht nur darin, mehr Infrastruktur zu schaffen, sondern dafür zu sorgen, dass die bereits vorhandene Infrastruktur belastbar und effizient ist und den Anforderungen von morgen gerecht wird. Der Ausgangspunkt ist ein besseres Verständnis der bestehenden Infrastruktur, weshalb wir der Anlagenanalytik in Zukunft Priorität einräumen werden.
Zur Unterstützung dieser Strategie kombinieren wir bestehende Produkte und Lösungen mit neuen Innovationen und Akquisitionen in einem Produktportfolio, das wir Bentley Asset Analytics nennen und das KI nutzt, um Einblicke in den Zustand bestehender Infrastrukturanlagen zu gewinnen.
Unser Ziel ist es, ein breites Spektrum von Anlagenklassen abzudecken und verschiedene Methoden zur Datenerfassung einzubeziehen, sei es durch IoT-Sensoren, Drohnen, Dashcams oder andere innovative Methoden.
Wir laden Ingenieurbüros ein, dabei mit uns zusammenzuarbeiten. Wir möchten Ingenieurbüros in die Lage versetzen, ihr Fachwissen auf den Anlagenbetrieb auszudehnen, und wir wissen, dass eine enge Zusammenarbeit erforderlich ist, um das Versprechen der KI-gesteuerten Anlagenanalytik zu erfüllen.
Die wahre Leistung der Anlagenanalytik wird durch die Integration eines digitalen Zwillings sichtbar. Ein digitaler Zwilling ist mehr als nur ein dynamisches Modell: Er ist ein digitaler roter Faden, der Daten aus verschiedenen Quellen miteinander verknüpft und so eine klare und sich weiterentwickelnde Sicht auf die Infrastruktur schafft. Dieser digitale Faden ermöglicht es Anwendern, Daten von IoT-Sensoren, Untergrundexploration, Satellitenbildern, Unternehmenssystemen und vielem mehr miteinander zu verknüpfen und all diese Informationen so auszurichten, dass ein vollständiger Kontext entsteht, der für eine intelligentere Entscheidungsfindung erforderlich ist.
Gehen wir noch einen Schritt weiter.
Eine der spannendsten jüngsten Entwicklungen auf unserem Weg zur Weiterentwicklung der Infrastruktur ist die Integration von 3D-Geospatial-Funktionen in den digitalen Zwilling.
Seit der Einführung von iTwin vor mehr als fünf Jahren haben wir gelernt, dass eine geospatiale 3D-Ansicht für Eigentümer und Betreiber sowie Ingenieurdienstleister die intuitivste Art ist, Informationen über Infrastrukturnetze und -anlagen zu suchen und abzufragen. Schließlich ist Infrastruktur ein Geodatenmaßstab.
Mit unserer Übernahme von Cesium sind wir nun in der Lage, eine 3D-Geodatenansicht der Infrastruktur bereitzustellen. Wir verlagern den Blickwinkel eines digitalen Zwillings für Infrastruktur vom technischen Modell auf den Planeten Erde, wo wir das technische Modell und alle notwendigen Daten über die umgebende gebaute und natürliche Umwelt geolokalisieren.
Die Kombination von Cesium und iTwin ermöglicht die nahtlose Verknüpfung von 3D-Geodaten mit Ingenieur-, Untergrund-, IoT-, Realitäts- und Unternehmensdaten, um digitale Zwillinge mit beeindruckenden Nutzungserfahrungen zu erstellen. Diese reichen von riesigen Infrastrukturnetzen bis hin zu millimetergenauen Details einzelner Anlagen – betrachtet vom Land, aus der Luft, vom Meer und vom Weltraum aus bis tief unter die Erdoberfläche.
Der vielleicht wichtigste Aspekt von Cesium ist jedoch die Ausrichtung auf Bentleys Vision von offenen Standards und Interoperabilität. Das bedeutet, dass Unternehmen externe Datenquellen, Tools von Drittanbietern und ihre eigenen Analysen direkt in den digitalen Zwilling integrieren können. Wir schaffen also kein weiteres Silo, sondern ermöglichen ein Ökosystem, in dem Daten sicher fließen und die Entscheidungsfindung auf jeder Ebene verbessern.
Offene Datenökosysteme
Auf dem Weg zu einem ausgereifteren Anlagenbetrieb und zu KI-gesteuerten Erkenntnissen ist eine Sache ganz deutlich geworden: Um das volle Potenzial dieser Innovationen zu erschließen, müssen wir sie mit einem breiteren Datenökosystem verbinden. Infrastrukturprojekte sind komplex und umfassen mehrere Organisationen, Teams, Fachbereiche und Interessengruppen, die über längere Zeiträume zusammenarbeiten.
Angesichts dieser Komplexität ist es nicht möglich, sich auf nur ein einziges System oder einen einzigen Anbieter zu verlassen. Stattdessen ist ein Ökosystem erforderlich, das Flexibilität, Integration und Interoperabilität zwischen verschiedenen Werkzeugen und Plattformen ermöglicht.
Diese Offenheit ist auch angesichts des langen Lebenszyklus von Infrastruktur entscheidend. Eine Straße, eine Brücke oder ein Staudamm kann 50 Jahre oder länger in Betrieb sein und wird in dieser Zeit repariert, modernisiert oder sogar erweitert. In dieser Zeit entwickeln sich auch die Software und die Plattformen weiter, die zur Verwaltung dieser Anlagen verwendet werden. Durch die Sicherstellung der Offenheit unserer Systeme ermöglichen wir Unternehmen die Einführung neuer Technologien und Innovationen, während sie gleichzeitig auf historische Daten zugreifen und darauf aufbauen können.
Offenheit bedeutet jedoch nicht nur die Verbindung verschiedener Software, sondern auch die Strukturierung und Organisation von Daten, damit diese über mehrere Plattformen hinweg abgefragt, analysiert und wiederverwendet werden können. Hier kommt das Base Infrastructure Schema von Bentley ins Spiel. In den letzten zehn Jahren haben wir ein robustes, quelloffenes Schema speziell für Infrastruktur entwickelt. Es ist ein ausgereifter, bewährter Rahmen, der über den grundlegenden Datenaustausch hinausgeht. Unser Schema sorgt dafür, dass Daten nicht nur zugänglich sind, sondern auch ihre Bedeutung verstanden werden kann. Mit dem Schema lassen sich Informationen über Materialien, Strukturen oder den Untergrund so organisieren, dass Ingenieurteams, Bauunternehmen und Organisationen den Wert ihrer Daten weiterverwenden und voll ausschöpfen können.
Wenn wir sicherstellen, dass sich die Daten an einem gemeinsamen Schema orientieren, können Infrastrukturteams effizienter arbeiten, fundiertere Entscheidungen treffen und einen langfristigen Wert schaffen. Offenheit ist der Antrieb für die Entwicklung von Infrastruktur.
Ein perfektes Beispiel dafür, wie wir die Grenzen der Offenheit erweitern, ist unsere Partnerschaft mit Google: Diese Partnerschaft steht für eine gemeinsame Vision für die Zukunft der Infrastruktur. Durch die Integration der Geodaten von Google in die Anwendungen und Plattformen von Bentley erreichen wir ein völlig neues Niveau bei unseren Leistungen und Möglichkeiten. Der enorme Umfang der Geodaten von Google ist unübertroffen. Wenn diese Daten mit dem Fachwissen von Bentley im Bereich der Infrastrukturtechnik kombiniert werden, entsteht ein Ökosystem, in dem die Daten problemlos fließen können und in dem die Anwenderschaft Zugang zu den umfassendsten und umsetzbarsten Geodaten hat, die es gibt.
Bei einem großen Stadtentwicklungsprojekt beispielsweise müssen mehrere Infrastruktursysteme wie Straßen, Brücken, Energie- und Wassernetze von verschiedenen Parteien koordiniert werden. Durch die Integration der umfangreichen 3D-Geodaten von Google mit der Cesium-Technologie und der iTwin-Plattform von Bentley können die Beteiligten ihre Anlagen (sowohl bestehende als auch geplante) in einem vollständigen, realen Kontext visualisieren. Dank dieser Integration können Teams fundiertere Entscheidungen treffen, angefangen beim Entwurf über den Betrieb bis hin zur Verbesserung der Projektergebnisse und Verringerung des Risikos von Betriebsausfällen. Es geht nicht nur darum, auf mehr Daten zuzugreifen – vielmehr sollen diese Daten sinnvoll und nützlich sein.
Unsere Partnerschaft mit Google spiegelt die Realität innerhalb der Infrastrukturbranche wider: Die Realität ist, dass kein einzelner Anbieter die Komplexität der heutigen Herausforderungen allein bewältigen kann. Indem wir das Beste aus beiden Welten zusammenbringen, also die unvergleichlichen Geodaten von Google und die branchenführende Software von Bentley für die Infrastrukturtechnik, schaffen wir ein offenes Ökosystem, das es Unternehmen ermöglicht, auf die benötigten Werkzeuge, Daten und Erkenntnisse zuzugreifen, wann immer sie diese benötigen. Wir setzen das Potenzial von 3D-Geodaten für Infrastruktur frei.
Die Zukunft der Infrastrukturtechnik ist offen. Sie ist flexibel, kollaborativ und baut auf einer Grundlage von Daten auf, die sicher ausgetauscht werden können. Und bei Bentley gehen wir mit gutem Beispiel voran und stellen sicher, dass die von uns entwickelten Anwendungen, Plattformen und Lösungen den sich entwickelnden Anforderungen unserer Branche gerecht werden.