Schweben, Statt im Stau zu stehen

Urbane Seilbahnen im ÖPNV als Alternative zum Autoverkehr

bauplaner 03/2022
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Tiefbau und Infrastruktur
Stadt- und Raumplanung
Gelassen mit der Seilbahn zum Ziel schweben, die Aussicht genießen und die im Schritttempo schleichenden Fahrzeuge entspannt überholen – Komfort und Genuss sind nur emotionale Aspekte dieser luftigen Art der Fortbewegung. Seilbahnen verbuchen einen weiteren konkurrenzlosen Nutzen: Sie überspannen Flüsse und Bergeshöhen, große Verkehrsachsen und Bahntrassen.

Zu Stoßzeiten keine Zeit im Straßenverkehr verlieren und einfach über den Stau hinwegschweben: Was in La Paz, Medellín und Ankara längst Realität ist, könnte bald auch für Bewohnerinnen und Bewohner deutscher Städte möglich sein. Die Infrastrukturexperten von Drees & Sommer untersuchen gemeinsam mit dem Verkehrswissenschaftlichen Institut Stuttgart im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMDV), ob eine Integration urbaner Seilbahnen in den öffentlichen Personennahverkehr als Teil der Mobilitätslösung umsetzbar ist. Seilbahnen sind schneller zu realisieren und signifikant kostengünstiger zu errichten, als Tunnels zu bohren oder Brücken zu bauen. Vor allem sind Seilbahnen klimafreundlich und können mit Ökostrom CO2-neutral betrieben werden. Was aber die Verkehrspolitikerinnen und -politiker am meisten interessiert: Sie können Lücken im ÖPNV schließen und beispielsweise die Vorstädte anbinden. Wenn die Kabinen im Umlauf fahren, braucht es noch nicht einmal einen Fahrplan. Man steigt einfach ein und schwebt seinem Ziel mit einer beschaulichen Durchschnittsgeschwindigkeit von maximal 30 Stundenkilometern entgegen. Und sind sie nicht mehr gewollt, dann geht ihr Rückbau vergleichsweise schnell und einfach vonstatten. Trotz dieser unstrittigen Vorteile gelten Seilbahnen in Deutschland weitgehend als exotische Verkehrsmittel. Noch nicht einmal vor einem Jahrzehnt stießen solche Mobilitäts konzepte bei Kommunalpolitiker:innen auf völliges Unverständnis, ihre Städte lägen schließlich nicht auf der Zugspitze, lästerten sie. Aber diese Zeiten sind seit der massiven Verkehrsproblematik, der sie sich zunehmend ausgesetzt sehen, vorbei. Die „schräge Idee“ ist inzwischen zur Alternative mutiert.

Studie als Grundlage für nationalen Standard
In Deutschland wurde bislang noch kein einziges Seilschwebebahnprojekt in den ÖPNV integriert, weshalb auch keine unmittelbaren Erfahrungswerte vorliegen. Einen wichtigen Anstoß, diese Zurückhaltung aufzugeben, gab das Bundesverkehrsministerium (BMDV) im Sommer 2020, als sie Drees & Sommer zusammen mit dem Verkehrswissenschaftlichen Institut Stuttgart (VWI) den Forschungsauftrag erteilte, eine Studie über die „stadt- und verkehrsplanerische Integration urbaner Seilbahnprojekte“ zu erarbeiten und einen Leitfaden für die „Realisierung von Seilbahnen als Bestandteil des öffentlichen Personen-Nahverkehrs (ÖPNV) zu erstellen. Ziel ist, so das BMDV, „innovative Konzepte zu schaffen, die das öffentliche Verkehrssystem sinnvoll ergänzen und neue Optionen für nachhaltige Mobilität im urbanen Raum ermöglichen.“ Dabei geht es nach der Vorstellung des BMDV um nichts weniger als einen „nationalen Standard“ für urbane Seilbahnen in Deutschland. Zwar gibt es mit der „EU – Seilbahnverordnung 2016/424“ eine europäische Rechtsgrundlage, die Vorschriften über den Entwurf, den Bau und den Betrieb neuer Seilbahnen enthält. Als Fallbeispiele dienten in der Verordnung die Anlagen in Lissabon und London, die allerdings erbaut wurden, bevor die EU-Verordnung in Kraft trat und deshalb kaum als praktische Handlungsanweisung herangezogen werden können. Hinzu kommt, dass die Erfahrungen in Bezug auf Planungs- und Genehmigungsverfahren aus anderen Ländern aufgrund unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Bedingungen nicht oder nur eingeschränkt auf Deutschland übertragbar sind.

Große Zustimmung der Bevölkerung
Eine repräsentative Drees & Sommer-Stichprobe vom Mai 2019 unter 180 Proband:innen zwischen 18 und 80 Jahren brachte ein überraschendes Ergebnis: 83 Prozent der Befragten stehen einem Einsatz von Seilbahnen positiv gegenüber, die überwiegende Mehrheit also. Eine Umfrage des Verkehrsexperten Prof. Klaus Bogenberger von der Münchner Bundeswehr-Universität kam mit 87 Prozent Zustimmung zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Befragten gaben auch an, Seilbahnen, wenn vorhanden, nutzen zu wollen. Der Drees & Sommer-Umfrage zufolge sind 42 Prozent der Befragten überzeugt, dass Seilbahnen den öffentlichen Nahverkehr insgesamt verbessern und stark beanspruchte Verkehrsstrecken entlasten. Lediglich was das Sicherheitsempfinden bei dieser Mobilitätsalternative betrifft, blieben die Proband:innen reserviert: Nur 31 Prozent vertrauen dem System „voll und ganz“. Vor allem treibt die Skeptiker die Frage um, wie die Betreiberfirmen bei unvorhergesehenen Situationen wie Unfällen oder einem Versagen der Technik reagieren.

Mit der Erfahrung sinkt die Skepsis
44 Prozent der Befragten plagt hingegen ein völlig anderes Problem: Sie sehen in der Seilbahn, die an ihren Wohnungen vorbeiführt, eine Beeinträchtigung ihrer Privatsphäre. Das sogenannte „Not-In-My-Backyard-Syndrom“, in der Bevölkerung als Sankt-Florians-Prinzip geläufiger, scheint offensichtlich ein mentales Hindernis für die Akzeptanz von Seilbahnen zu sein. Obwohl viele Menschen von den Vorteilen einer solchen Anlage überzeugt sind, bleibt die Zustimmung verhalten, wenn die Kabinen am Schlafzimmerfenster vorbeischweben. Doch selbst diese Sorge ließe sich dank moderner Technik regelrecht in Luft auflösen: Sogenanntes „Privacy Glass“ verdunkelt die Scheiben während der Fahrt zeitweilig, um die Einsicht auf Privatgrundstücke zu schützen. Laut der Umfrage gaben drei von vier der Befragten an, dass eine Trasse durchaus in direkter Nähe zu ihrem persönlichen Wohnumfeld verlaufen kann, sofern diese angemessen hoch installiert ist. Und nach aller Erfahrung steigt die Akzeptanz von Seilbahnen, wenn sie erst einmal Teil des öffentlichen Nahverkehrs sind. So sollte die Seilbahn in Koblenz, die anlässlich der Bundesgartenschau 2011 gebaut wurde, nach der Schau wieder abgebaut werden. Doch eine Bürgerinitiative wehrte sich und setzte sich für ihren Verbleib ein.

Rückhalt als Erfolgskriterium
Für Drees & Sommer, die in Koblenz den Bauherrn bei Wettbewerb und Auswahlverfahren begleiteten, ist deshalb der Rückhalt in der Bevölkerung das entscheidende Erfolgskriterium. Auch wenn die Seilbahn im Vorfeld häufig umstritten ist, wollen die Menschen dort, wo sie in luftiger Höhe ihre Bahnen zieht, nicht mehr missen. Wer die Bevölkerung von Anfang an mitnimmt, den Dialog sucht und offensiv kommuniziert, kann die Bedenken der Bevölkerung ausräumen. Eine Seilbahn muss nicht zwangsläufig in den Köpfen der betroffenen Bürger:innen scheitern. Leichter wäre es für die Entscheidungsträger in den Kommunen, wenn es in Deutschland ein „Pilotprojekt“ für eine in den Nahverkehr integrierte Seilbahn gäbe, woran sich Städte und ihre Bewohner:innen orientieren könnten. Die Bedenken der Menschen sind zwar real, aber oft diffus. 16 teils unterschiedliche Landesseilbahngesetze sind dabei der Sache nicht unbedingt förderlich. Vorstellungen über die Machbarkeit klaffen auch weit auseinander. So sind Stützen heutzutage nur noch im weiten Abstand von 200 bis 300 Meter nötig, mit moderner Technologie sogar bis zu einem Kilometer, während vor Jahrzehnten noch ein Abstand von 50 Metern für notwendig erachtet wurde.

Städte und Kommunen diskutieren über Seilbahnen
Wenngleich in Deutschland nur bescheidene Erfahrungen mit Seilbahnen im urbanen Bereich vorliegen, gibt es trotzdem in zahlreichen Städten Planungen zum Einsatz dieses Systems als Ergänzung zum bestehenden öffentlichen Nahverkehr. In Köln, Bonn, Stuttgart, München, Düsseldorf und Berlin sind die Pläne bereits weit fortgeschritten. In Bonn und Wuppertal schon so weit, dass Studien fertiggestellt oder – wie in Stuttgart und München – beauftragt worden sind. Für die politischen Entscheidungsträger:innen stellt das neue Verkehrsmittel nicht nur anspruchsvolle Anforderungen an Planung und Bau, sondern auch an die Kommunikation. Schließlich müssen die Betroffenen in den Städten von dem Konzept überzeugt sein. Unbestritten sind urbane Seilbahnen, wenn die Einsatzbereiche klar für ein „überirdisches“ Konzept sprechen. Seilbahnen eignen sich also vorwiegend beim Überwinden topographischer, baulicher und verkehrlicher Hindernisse und als Zubringer bestehender ÖPNV-Trassen. Ihr Einsatz bringt eine Entlastung der bestehenden Verkehrsinfrastruktur und schließt verkehrliche Lücken. Schließlich kann sie leichter verkehrsmäßig belastete und periphere Standorte verbinden und insgesamt neue Verkehrsnetze ermöglichen. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis urbane Seilbahnprojekte verstärkt auf den Radarschirmen der Verkehrsplaner auftauchen und als sinnvolle Ergänzung des bestehenden öffentlichen Nahverkehrs betrachtet werden. Der Leitfaden von Drees & Sommer und dem Verkehrswissenschaftlichen Institut in Stuttgart für die stadt- und verkehrsplanerische Integration von Seilbahnen wird Entscheidungsträgern als Handlungsanweisung dienen und kann die Akzeptanz dieses Verkehrsmittels in der Bevölkerung erhöhen.

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