Versagt die Compliance, droht Gefängnis

Die Crux mit der Scheinselbständigkeit

Deutsches Ingenieurblatt 03/2020
Recht

Fachkräfte, wie etwa Ingenieure, werden in Deutschland händeringend gesucht. Dieser Mangel führt zum Beispiel dazu, dass der Ausbau der Schienen- und Straßeninfrastruktur nur schleppend vorangeht. Viele Unternehmen suchen daher auf diesem Gebiet fieberhaft Experten. Doch oftmals wollen Spezialisten lieber als Freelancer arbeiten. Sind sie aber stark in ein Projekt eingebunden, besteht die Gefahr der Scheinselbständigkeit und der verdeckten Arbeitnehmerüberlassung. Das wiederum stellt sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer ein großes Problem dar. Der Gesetzgeber und die Unternehmen selbst müssen handeln.

Berlin hat in den vergangenen Jahren die Gesetze verschärft, um Selbständige vor dem Missbrauch durch Unternehmen zu schützen. Der Politik ging es darum, den Auswüchsen im Niedriglohnsektor Einhalt zu gebieten, also zum Beispiel sogenannte Ausbeiner in Schlachthäusern oder schlecht bezahlte Erntehelfer aus Polen, Rumänien oder den Staaten des Westbalkans als Selbständige auftraten. Diesen Menschen zu helfen, war wichtig und richtig. Doch diese Regelungen betreffen gleichzeitig hochqualifizierte Experten wie Ingenieure, obwohl sie einen derartigen Schutz gar nicht benötigen. Im Gegensatz zu den Ausbeinern und Erntehelfern wollen diese Spezialisten aus guten Gründen tatsächlich selbständig sein. Wer zum Beispiel in der Bauüberwachung tätig ist, verdient sehr gut, kann sich privat versichern und fürs Alter vorsorgen. Viele Experten schätzen es, als Selbständige zeitlich flexibel arbeiten zu können. Weil die Sozialgerichte diese gut situierten Freiberufler nach den Maßgaben des Gesetzes aber wie ungelernte Hilfskräfte behandeln, entstehen für die Auftraggeber brenzlige Situationen, wie etwa der Vorwurf der Hinterziehung von Steuern und Sozialversicherungsbeträgen.

Scheinselbständigkeit ist kein Kavaliersdelikt

Wer als Bauingenieur über Spezialqualifikationen oder besondere Kenntnisse verfügt, ist begehrt bei Unternehmen in der Baubranche. Dies betrifft beispielsweise „Bauüberwacher Bahn“ nach VV-Bau des Eisenbahnbundesamts, aber auch Bauüberwacher im Ingenieurbau oder Vertrags- und Nachtragsmanager für Bauzeitnachträge. Doch viele dieser Experten sind bereits angestellt, etwa bei der DB Netz, der Deges oder anderen öffentlichen Auftraggebern. Der andere Teil ist selbständig und plant in der Regel auch, dies zu bleiben. Die Zusammenarbeit mit diesen Fachkräften läuft je nach Auftrag ganz unterschiedlich ab: Manchmal werden sie kurzfristig und sehr intensiv auf einer Baustelle gebraucht, in anderen Fällen begleiten sie ein Projekt mit wenigen Wochenarbeitsstunden über einen langen Zeitraum, teilweise bis zu zehn Jahre. Häufig müssen auch selbständige Bauüberwacher aus Gründen der IT-Sicherheit mit den Laptops des Auftraggebers arbeiten. Es kommt zudem oft vor, dass sie lediglich in einem engen Zeitfenster tätig werden können. Zum Beispiel bei Instandhaltungsarbeiten, wenn eine Bahnstrecke nur für kurze Zeitabschnitte gesperrt wird. Das kann nach sich ziehen, dass die Sozialgerichte darin eine Eingliederung in die Organisation des Auftraggebers erkennen. Dies wiederum erfüllt den Tatbestand der Scheinselbständigkeit oder verdeckten Arbeitnehmerüberlassung, die rechtswidrig ist und unter Strafe steht.

Die Gerichte konstruieren in beiden Fällen rückwirkend ein Anstellungsverhältnis beim Auftraggeber. Das bedeutet, dass Sozialversicherungsbeiträge nachgezahlt werden müssen. Konkret liegt hier der Straftatbestand der Steuerhinterziehung vor. Es lohnt sich, einen Fall theoretisch durchzuspielen: Angenommen, mehrere freie Mitarbeiter arbeiten an einem großen Infrastrukturprojekt über mehrere Jahre. Ein Gericht bewertet deren Aufträge im Nachhinein aber als scheinselbständig. Dann übersteigt die fällige Nachzahlung an die Sozialkassen schnell einen Betrag in Höhe von einer Million Euro. Weil Strafe aufgrund der Schadenshöhe nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann, führt dies für die Verantwortlichen zu schwerwiegenden Konsequenzen: Sie landen im Gefängnis.
Vor diesem Hintergrund verzichten viele große Privatunternehmen oder Banken inzwischen vollständig auf den Einsatz freier Mitarbeiter. Öffentliche Auftraggeber hingegen begegnen dem möglichen Rechtsbruch oftmals eher gelassen. Ein Beispiel: Arcadis hat kürzlich die Verantwortlichen einer für den Fernstraßenbau zuständigen Behörde eines großen deutschen Bundeslands darauf hingewiesen, dass sie mit großen Schwierigkeiten rechnen müssten. Das lag an der Art der Vertragsgestaltung für eine Tätigkeit im Bereich der Bauüberwachung. Sie war auf dem Papier als Werkleistung ausgeschrieben. Zwei Punkte im Vertrag, nämlich die strengen Weisungsrechte und die zeitabhängige Vergütung, machten aber sehr deutlich, dass die Behörde sich eigentlich mit einer einzelnen Person verstärken wollte. Zudem sollte der Kontrakt über einen längeren Zeitraum laufen. Die Gerichte hätten darin eine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung erkennen können.

Fachkräfte brauchen mehr Freiheit

Es ist für den Ausbau der Schienen- und Straßeninfrastruktur von enormer Wichtigkeit, dass hochspezialisierte Freelancer – zum Teil mit einem eigenen Zertifikat am Markt – als Selbständige arbeiten können, auch wenn sie intensiv oder langfristig in ein Projekt eingebunden werden. Das läuft den gesetzlichen Vorgaben jedoch zuwider. Obwohl in dieser Berufsgruppe niemand ausgebeutet und die Sozialkassen nicht belastet werden, muss die Compliance-Abteilung von Arcadis zum Beispiel die Beauftragung dieser Spezialisten und damit auch die Übernahme von Aufträgen der öffentlichen Auftraggeber ablehnen.
Um dem Investitionsrückstau in Deutschland zumindest etwas aufzulösen und wichtige Infrastrukturprojekte voranzutreiben, sind zwei Dinge wichtig: weniger Regulierung und eine größere Rolle der Compliance bei kleinen und mittelständischen Unternehmen. So muss der Gesetzgeber für hochqualifizierte Freiberufler wie Ingenieure Rechtssicherheit schaffen. Die Wirtschaft braucht klare gesetzliche Kriterien, um Spezialisten flexibel einsetzen zu können. Fachkräfte mit hohen Vergütungen, besonderen beruflichen Qualifikationen oder Spezialwissen müssen von der Regelung ausgenommen werden. So könnte eine Selbständigkeit bestätigt werden – ohne die Prüfung des einzelnen Auftrags. Ein Aspekt, der darüber hinaus über die Freiberuflichkeit der Experten entscheiden könnte, wären beispielsweise eine Untergrenze bei Bezahlung pro Stunde oder Tag. Zudem sollte die Rentenversicherung angehalten sein, nicht sofort eine Scheinselbständigkeit zu unterstellen, wenn Freiberufler mit festangestellten Mitarbeitern eng zusammenarbeiten oder in interne Prozessabsprachen eingebunden sind.

Kleinen und mittelständischen Unternehmen sei empfohlen, die Bedeutung der Compliance im Haus zu stärken. Die Führungsspitze sollte den Mitarbeitern dieser Abteilung öfter Gehör schenken und deren bedeutende Rolle nach innen und außen kommunizieren. Nachlässigkeit bei diesem Thema darf in Firmen nicht länger toleriert werden. Aussagen von Führungskräften, die in der Praxis immer wieder zu hören sind – „Das machen doch alle so.“ oder „Wenn das alle so handhaben, geht die Branche vor die Hunde.“ –, verbieten sich bei einem Vorgang, der in letzter Konsequenz eine Gefängnisstrafe nach sich ziehen kann. Generell sollten Unternehmen intern einen mehrstufigen Compliance-Prozess implementieren und erst bei einem positiven Fazit ein Angebot abgeben oder einen Auftrag annehmen.

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